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Rubrik: Campus Life
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Publiziert: 30.01.2006 06:00

Archiv für Zeitgeschichte: Schüler treffen Überlebende der Shoah
Gestohlene Kindheit

Zeugnis abzulegen: Die Motivation von Holocaust-Überlebenden, über ihre Erfahrungen zu sprechen, war für Gymnasiasten aus Zürich und Winterthur gleichzeitig die Chance, mit Geschichte in eindrücklicher Weise auf Tuchfühlung zu gehen. Die Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte im Archiv für Zeitgeschichte an der ETH (AfZ) hatte diese Begegnungen zum Holocaust-Gedenktag am letzten Freitag ermöglicht.

Norbert Staub

„Selbst unter den unglaublichen Schicksalen, von denen es während der Zeit der Verfolgung der Juden und des Holocaust manche gab, sticht dieses heraus“, sagte Daniel Gerson, stellvertretender Leiter der Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte zur Einführung seines Gastes Jake Fersztand. Aus Anlass des offiziellen Holocaust-Gedenktags am letzten Freitag erzählte der Zeitzeuge in der Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte im AfZ einer Winterthurer Gymnasialklasse aus seinem Leben.

1932 in der polnischen Kleinstadt Kozienice geboren, gehörte Jake Fersztand zur damals über drei Millionen Menschen zählenden jüdischen Gemeinschaft des Landes. Ihre Existenz war schon damals schwierig, weil die polnischen Behörden den latenten Antisemitismus der Bevölkerungsmehrheit tolerierten. Aber der Knabe konnte bis zum 7. Lebensjahr einigermassen normal aufwachsen. „Ich erinnere mich allerdings, dass meine Eltern manchmal wie angeklebt vor dem Radio sassen um zu hören, was in Deutschland vor sich ging“, erzählt Fersztand. „Sie konnten einfach nicht glauben, dass sich einer wie Hitler politisch durchsetzen würde.“

Fixpunkte der Erinnerung

So ungeheuerlich die Ereignisse - Jake Fersztand spricht ruhig und anschaulich von dem, was nach dem Überfall der Deutschen auf Polen geschah: Von der Nacht, als die Synagogen von Kozienice brannten, von Razzien und Plünderungen, von jüdischen Männern, die zur Zwangsarbeit deportiert wurden und vom Tag, als die SS den Vater festnahm und jämmerlich zusammenschlug. „Dies bleibt ein Fixpunkt in meinen Erinnerungen“, so Fersztand. „Wir wurden im Ghetto von Kozienice zusammengepfercht. Die Insassen mussten die Verwaltung und sozialen Einrichtungen aufbauen und betreiben, immer scharf überwacht von den Besatzern.“

Nach Auflösung des Ghettos fand Jake Fersztand mit seiner Schwester Unterschlupf bei Bauern, die sie gegen Bezahlung aufnahmen. „Als mein Vater eines Tages von den Deutschen in den sicheren Tod deportiert wurde, musste uns meine Mutter wieder zu sich nehmen; es fehlte das Geld.“ Bald darauf gerieten auch die Zurückgebliebenen in den Sog der Deportationen. Überfallartig wurden sie zusammengetrieben und mit Lastwagen abtransportiert. Fersztand: „Am Ende der Fahrt standen wir in einer Fabrikhalle, mussten die Wertgegenstände abgeben und wurden zum Duschen geführt; zur Desinfektion, wie es hiess. Wir klammerten uns an meine Mutter, die mit Todesangst zu den Brauseköpfen hochsah. - Es kam Wasser.“

Leben am seidenen Faden

Frühzeitig hatten unter den Gefährdeten Berichte über die Tötungspraktiken des NS-Regimes die Runde gemacht. Doch das relative Glück der Fersztands bestand darin, dass es sie als „Arbeitsjuden“ ins Lager Skarzysko in Südpolen verschlug – einen berüchtigten Ort zwar, aber kein Vernichtungslager. Ihm angeschlossen war eine Munitionsfabrik, wo die Mutter unter prekärsten Bedingungen arbeiten musste. Man schlief in Baracken; das Essen bestand hauptsächlich aus etwas Brot und einer wässrigen Suppe. Fersztand: „Hunger, Durst und Kälte waren die ständigen Begleiter in dieser Zeit.“


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Erzählten Schülern von ihren Erfahrungen während der Zeit des Holocaust: Jake Fersztand (l.), Maja Antosiewicz. gross

Es folgten fast fünf Jahre Gefangenschaft, in denen das Leben eines Kindes davon abhing, ob es seine Nützlichkeit unter Beweis stellen konnte. „Einmal zog ich den Unmut eines Lagerkommandanten auf mich, als der mich auf dem Appellplatz stehen sah. Er hatte bereits die Pistole gezückt, um mich zu erschiessen, als sein jüdischer Begleiter die Situation mit einem Lachen entschärfte und der SS-Mann mich fortschickte“, erzählt Fersztand. Wieder hing alles an einem Faden, als der Knabe von Typhus befallen wurde. Aber er überstand die Krankheit; er war jetzt etwa zehn Jahre alt.

Die nächste Station hiess Tschenstochau, auch das ein Arbeitslager für die Munitionsfabrikation. Nun wurde das Essen noch knapper. Die Kleider, nie ersetzt, zerfielen. Dann, Ende 1944, näherte sich die Rote Armee, und die Arbeitslager in Polen wurden aufgelöst. Der zwölfjährige Jake Fersztand gelangte nach einer Reise im Viehwaggon mit Tausenden anderen Häftlingen ins KZ Buchenwald. Von hier wurde er kurz vor Kriegsende erneut auf eine mörderische Irrfahrt im offenen Waggon geschickt. Als der Zug am 6. Mai 1945 im Ghetto Theresienstadt ankam, waren Unzählige der Gepeinigten gestorben. Zwei Tage später kam die Befreiung durch russische Truppen. Jake Fersztand gehörte später zu einer Gruppe von über 700 Kindern, die nach England gebracht wurden und dort aufwachsen konnten. Wie durch ein Wunder überlebten auch die von ihm zuvor getrennte Mutter und die Schwester.

Langer Prozess

Geborgenheit und Unbekümmertheit, kurz alles, was das Kindsein ausmache, habe er nie erfahren, sagt Fersztand: „Man hat mir meine Kindheit gestohlen.“ Heute, nach einem langen Prozess der Verarbeitung, blicke er aber ohne Hass auf seine Geschichte. Die Wahrheit dürfe nicht vergessen gehen. Darin liege sein Antrieb zu erzählen. Mit der selben Motivation schildert Maja Antosiewicz (geborene Ganz) ihr Schicksal: „Wir sind die Letzten. Wer soll davon erzählen, wenn nicht wir?“ Als Jüdin 1919 in Aachen geboren, erfuhr sie bewusst, wie die Juden erst subtil und dann immer offener diskriminiert und verfolgt wurden. „Die Tuberkulose rettete mein Leben“, erzählt sie. Im August 1938 reiste Maja Antosiewicz zur Kur nach Arosa – einen Tag, bevor die Schweizer Grenze für jüdische Einreisende geschlossen wurde. Maja Antosiewicz blieb in der Schweiz, heiratete und musste erfahren, dass Vater, Schwester und Grosseltern dem deutschen Rassenwahn zum Opfer fielen.


Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte

Die von Uriel Gast geleitete Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte betreut unter anderem die historischen Archive des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und anderer jüdischer und nichtjüdischer Institutionen und macht sie der Forschung zugänglich. Die Dokumentationsstelle umfasst Forschungsfelder wie Geschichte der Juden in der Schweiz, Judenverfolgung, Holocaust und Emigration, Schweizerische Flüchtlingspolitik und Flüchtlingshilfe während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Rechtsextremismus und Antisemitismus in der Schweiz.




Literaturhinweise:
Website der Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte: www.afz.ethz.ch/fsdokustellen.html



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