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Rubrik: Im Gespräch

ETH-Professor und 1. Mai-Demonstrant im Streitgepräch
Randale statt Ideale

Published: 01.05.2001 23:00
Modified: 01.05.2001 23:32
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In den letzen Jahren entwickelten sich die unbewilligten Nachdemonstrationen im Anschluss an die 1. Mai-Feiern wiederholt zu gewalttätigen Strassenkämpfen zwischen der Polizei und dem sogenannten "Schwarzen Block". Welches sind die Ursachen für die alljährlich am 1. Mai eskalierende Gewalt? ETH Life diskutierte dies in einem Streitgespräch zwischen einem Experten für Jugendgewalt, dem ETH Soziologie-Professor Manuel Eisner, und einem 1. Mai-Demonstranten.



Mit Professor Eisner und Demonstrant "Marcos" sprachen Jakob Lindenmeyer und Richard Brogle

Lindenmeyer: Waren Sie schon mal an einer illegalen Demonstration?

Professor Manuel Eisner: Ich bin ein Kind der "Bewegung" der Achtziger Jahre. Dort habe ich den Krawall "von innen" kennengelernt. Ich besuchte damals auch das Autonome Jugendzentrum Zürich, das AJZ. Meistens ging ich auch an die 1. Mai-Veranstaltungen. Die gewalttätigen Nachdemonstrationen schaue ich mir als Soziologe gelegentlich aus rein beruflichem Interesse an. Seit 15 Jahren treffe ich dort aber immer dieselben Parolen und destruktiven Rituale. Es ist mir ein Rätsel, wie sich dieses Phänomen hier in Zürich so lange halten konnte. Der immer gleiche Ablauf der Nachdemo ist ja im Grunde völlig inhaltsleer und langweilig.

Eisner
Eisner: "Früher konnten die Jugendlichen noch ihre Haare färben, Drogen konsumieren, oder sich für neue politische Ideen engagieren, um die Erwachsenen zu reizen. Heute bleibt nur noch die Gewalt."


Der ETH-Experte für Jugendgewalt

Der 41-jährige Soziologe Manuel Eisner ist seit rund fünf Jahren Assistenzprofessor für Soziologie an der ETH Zürich. In seinem Forschungsschwerpunkt "Delinquenzsoziologie" untersucht Eisner die Ursachen von Jugendgewalt und analysiert die langfristigen Delinquenzentwicklungen in Europa. 1999 veröffentlichte Eisner zusammen mit der Bildungsdirektion eine gross angelegte ETH-Studie über die Gewalterfahrungen von Jugendlichen im Kanton Zürich. (1)


"Politisch nicht viel dahinter"

Demonstrant Marcos*: *(Name zu seinem eigenen Schutz durch die Redaktion geändert. Daher auch die Zapatisten-Gesichtsmaske auf den Fotos) "Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Eisner, finde ich die 1. Mai-Nachdemo überhaupt nicht langweilig. Vielmehr bietet der Strassenkampf einen spannenden Nervenkitzel. Wie an einer guten Party. Allerdings stimmt es schon, dass bei der Nachdemo politisch nicht mehr viel dahinter steckt. Es ist primär ein Kampf gegen Polizisten und Schaufenster."

Eisner
Demonstrant Marcos: "Es stimmt schon, dass bei der Nachdemo politisch nicht mehr viel dahinter steckt."

"Ich bin verblüfft!"

Eisner: (zu Marcos) Ich bin verblüfft! Das ist für mich ein neues Phänomen. Sie machen nicht einmal mehr den Versuch, die Zerstörungen mit politischen Anliegen zu ummanteln, sondern geben ganz offen zu, dass nur die pure Lust an der Aggressivität übrig bleibt.

Früher Drogen, heute Gewalt

Eisner: (analysierend zu ETH Life) An Demonstrant Marcos zeigt sich sehr schön, wie heute ein Teil der Jugend desillusioniert ist, weil in den letzten 15 Jahren die grossen politischen Weltentwürfe verloren gingen. Wo soll denn die Jugend heute noch neue Ideale finden, mit denen sie sich gegen die Erwachsenen abgrenzen können? In den 70er und 80er Jahren waren neue Lebensstile - ausgefallene Kleidung, lange oder farbige Haare, Drogenkonsum, - und das Engagement für neue politische Ideen etwa in der Anti-AKW-Bewegung oder später auch noch in der Autonomenbewegung etwas, mit dem man die Erwachsenen ärgern konnte. Aber heute ist es schwierig geworden, die vorherige Generation noch zu überholen.

(Marcos nickt zustimmend)

Eisner: Für einige Jugendliche ist daher Gewalt zum einizg verbleibenden Mittel geworden, um die Erwachsenen zu reizen. Hier spüren sie den Widerstand der Gesellschaft. Hingegen fehlen häufig konstruktive Perspektiven, das Aufbegehren mit etwas Kreativem zu verbinden.

In der Industriegesellschaft gab es immer wieder Zyklen von "öffentlichem Engagement" und von einem "Rückzug ins Private". Momentan herrscht insgesamt letzteres vor. Eine neue Bewegung entsteht aber erst, wenn neue Ideen da sind. Und neue Ideen haben die Eigenart, dass man sie erst erkennen kann, wenn sie da sind.

Lindenmeyer: Sind beispielsweise die Globalisierungsgegner ein Keim für eine solche neue Protest-Bewegung?

Eisner: Wenn es in diesem Zusammenhang eine breite neue "Bewegung" geben wird, dann entsteht sie wohl am ehesten in den Entwicklungsländern. Die industrialisierten Länder profitieren viel zu stark von der Globalisierung.

"Lustgefühl am Kampf"

Lindenmeyer: Lässt sich die Jugendgewalt an der 1. Mai-Nachdemo mit der Gewalt von Hooligans an Eishockeyspielen oder mit der von Ihnen in der ETH-Studie (1 (#studie) ) untersuchten Gewalterfahrung von Zürcher Jugendlichen vergleichen?

Eisner: Nein, das ist nicht dasselbe. Die links-autonome Nachdemo-Szene am 1. Mai ist eine ganz andere Jugend-Subkultur als die in unserer Studie untersuchten gewalttätigen Jugendlichen. Wir fanden in der Studie die Gewalttäter hauptsächlich bei Jugendlichen mit tieferen Bildungsniveaus, aus unterprivilegierten Verhältnissen und einem schwierigen familiären Umfeld. Gewalt äussert sich hierbei meist in Form von Erpressung, Raub oder Schlägereien. Also primär direkte Gewalt gegen Personen.

An der Nachdemo hingegen üben die Teilnehmer nicht direkt Gewalt gegen Personen aus, sondern gegen Sachen wie Schaufenster. Ausser natürlich die Gewalt gegen die "entpersonalisierten" Polizisten. Die Polizisten werden an der Nachdemo nicht mehr als Personen wahrgenommen, sondern als "Handlanger des Kapitals". Ich vermute, dass die Teilnehmer der 1. Mai-Nachdemo aus einem ganz anderen sozialen Milieu stammen, als gewaltttätige Jugendliche allgemein. Sie haben eher eine höhere Schulbildung und kommen wohl in der Regel aus behüteteten und geordneten Verhältnissen.


Aus den Medien: Die Teilnehmer der 1. Mai-Nachdemo

In ihren gestrigen Artikeln vermuten der Tages-Anzeiger und die Weltwoche folgende Gruppierungen unter den Teilnehmern der aktuellen 1. Mai-Nachdemo: Primär sei es ein loses Beziehungsgeflecht unterschiedlichster linksradikaler Gruppierungen wie der orthodox-kommunistische "Revolutionäre Aufbau", Globalisierungsgegner, Solidaritätskomitees für Drittwelt-Bewegungen, politisch engagierte Jungsozialisten, radikalfeministische Organisationen, anarchistische Häuserbesetzer und Autogegner, 80er-Nostalgiker, Secondos und linke Hooligans. Was sie alle verbinde, sei der militante Kampf gegen allerlei Ismen, vom Kapitalismus über Rassismus bis zum Sexismus. Laut Weltwoche stehen die "Revolutionsromantiker" des schwarzen Blocks allerdings kurz vor einem "unfriendly takeover" durch jugendliche Aktivisten ohne politisches Bewusstsein. Die zahlenmässig grösste Gruppe bilden laut Tages-Anzeiger sowieso jetzt schon die "Gaffer", die ihre Schaulust nur schwerlich vom Strassenrand aus befriedigen könnten. (2) , (3)


Eisner: Generell gleichen sind bei allen Gruppierungen gewisse Mechanismen, wie Gewalt entsteht. In allen Kulturen lassen sich bei der Konfrontation von zwei Gruppen junger Männer Tendenzen zu "kollektiver Aggressivität" feststellen. Das "Lustgefühl am Kampf" zieht speziell junge Männer an. Dies legt sich aber mit zunehmendem Alter. Bei Frauen findet man diese Bereitschaft zu Aggressivität in der Gruppe von Gleichaltrigen sehr viel weniger.

Eisner
Eisner zu Demonstrant Marcos: "Ich bin verblüfft, dass Sie nicht einmal mehr den Versuch machen, die Zerstörungen mit politischen Anliegen zu ummanteln."

"Völlig am falschen Ort"

Marcos: Ich sehe das auch so, dass dies völlig unterschiedliche Szenen sind. Am ZSC-Match herrschen ganz andere Feelings als am 1. Mai. Am Eishockey-Match geht es primär ums Konsumieren. Letzthin im Hallenstadion bemerkte ich, dass ich irgendwie völlig am falschen Ort war. Nach dem Spiel gegen Lugano wurde ich mit Tränengas eingenebelt. Als ich mich gegen die Polizisten wenden wollte, war ich plötzlich unter lauter Skinheads. Da hab ich mich dann gar nicht mehr wohl gefühlt, denn ich will ja nicht bei den "Rechten" mitkämpfen, die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen.

Wer provoziert zuerst?

Marcos: An der 1. Mai-Nachdemo wollen wir jeweils einfach friedlich demonstrieren und Leute treffen. Aber dann kommt die Polizei immer mit Gewalt. Und das Tränengas macht dann erst recht aggressiv.

Eisner: Das halte ich für gelogen. Man kommt doch an die Nachdemo in der Erwartung auf Strassenkampf und Gewalt. Die Polizei hat dann keine andere Wahl als Sachbeschädigungen und Gewalt gegen Polizisten mit Gegengewalt zu bekämpfen. Das ist ihr Ordnungsauftrag. Und die Demonstranten wissen das. Das nützen sie aus, indem sie so lange provozieren, bis die Polizei einschreiten muss.

Marcos: Wer macht den ersten Schritt?

Eisner: Die Demonstranten.

Marcos: Das sehe ich nicht so. Es ist die Polizei, die provoziert.

"Voll im Griff haben sie's noch nie gehabt."

Eisner (zu Marcos): Was würden Sie der Polizei denn als Strategie empfehlen? Wie sollte sie sich Ihrer Meinung nach verhalten, um Gewalt einzudämmen?

Marcos: Ich habe miterlebt, wie ein Hooligan-Spezialist nach dem ZSC-Match unter den Skinheads aufgeräumt hat. Kompliment. Aber zum Verhalten der Polizei am 1. Mai kann ich nur sagen: Voll im Griff haben sie's noch nie gehabt.

Eisner: Interessant! Gegen Skinheads befürworten Sie also durchaus ein entschlossenes polizeiliches Eingreifen.

Eisner
Demonstrant Marcos: "Ich will ja nicht bei den 'Rechten' mitkämpfen, die sich gegenseitig die Köpfe einschlagen."

1. Mai ausfallen lassen?

Brogle: Was wären denn mögliche Massnahmen gegen die alljährlichen Ausschreitungen an der 1. Mai-Nachdemo?

Eisner: Auf polizeilicher Ebene gibt es zur Umsetzung des Ordnungsauftrages keine Alternative. Diskutieren kann man über die beste Strategie, um Eskalationen zu verhindern. Vielleicht wird man in Betracht ziehen müssen, den 1. Mai für ein bis zwei Jahre ausfallen zu lassen, (wie das dieses Jahr in Berlin gemacht und vom Zürcher Stadtrat für nächstes Jahr angedroht wird). Denn man muss klar sehen, dass der "Schwarze Block" letztlich dazu beiträgt, den 1. Mai als politischen Anlass zu zerstören.

EisnerDenkend
Eisner: "Vielleicht wird man in Betracht ziehen müssen, den 1. Mai für ein bis zwei Jahre ausfallen zu lassen."

Medien erwarten Schlagabtausch

Eisner: Was ich auch problematisch finde, ist die Rolle der Medien, inklusive Sie von ETH Life. In den letzten zwei Tagen bekam ich von vier verschiedenen Medien Anfragen, bereits im Vorfeld als Fachexperte die Gewalt am 1. Mai zu kommentieren, obwohl noch gar nichts passiert ist. Gewalt ist für die Medien insofern unpraktisch, weil man erst darüber berichten kann, NACHDEM etwas geschehen ist. Der 1. Mai hingegen ist fast ideal: Man weiss genau, wo was passiert und kann live berichten. Die Medien bauen jeweils eine ganze Arena mit Dutzenden von Fotografen und Kameras auf. Das übt natürlich eine enorme Attraktivität aus auf die jugendlichen Gewalttäter, weil die Demonstrationen erst sinnvoll werden, wenn man ein Publikum hat. Wenn dieses und mit ihm die Medien nur ein Jahr wegbleiben würden, so hätten wir nächstes Jahr ziemlich sicher keine Nachdemo mehr.

Marcos: Ich persönlich finde es anderseits auch interessant, am nächsten Tag in den Medien zu lesen, was alles kaputt gegangen ist.

Festnahme ist aufregend

Brogle: Lässt sich der "Schwarze Block" überhaupt noch von der Justiz beeindrucken?

Eisner: Für die allermeisten bleibt die Teilnahme an der Nachdemo weitgehend folgenlos. Allenfalls kommt man in eine Personenkontrolle und wird nachher wieder laufengelassen. Denn es ist für die Justiz unheimlich schwierig nachzuweisen, dass die betreffende Person sich etwas Gravierenderes zu Schulden kommen liess. Das führt dazu, dass die vorübergehende Festnahme in der Szene praktisch als etwas Aufregendes empfunden wird, auf das man stolz ist.

Brogle: Schreckt ein Eintrag ins Strafregister nicht ab?

Eisner: Wenn es gelänge, mehr Beteiligte zu verurteilen, könnte man sicher viele abschrecken. Ein kleiner, harter Kern wird sich aber nicht abschrecken lassen.

Marcos: Bussen von ein paar Hundert Stutz schrecken doch niemanden ab. Wir haben auch schon Veranstaltungen gemacht, mit deren Gewinn die Bussen der Verurteilten bezahlt wurden. So kann man sich immer wieder retten.

Brogle: ...und der Eintrag im Strafregister?

Marcos: Wen interessiert das schon? Bei einem Arbeitgeber, der sich dafür interessiert, gehe ich sowieso nicht arbeiten.

Eisner
Eisner: "Das Ritual der 1. Mai-Nachdemo beschränkt sich darauf, Gewalt auszuüben. Wenn die Gewalt wegfällt, ist auch das Ritual nicht mehr da."

Ohne Gewalt kein Ritual

Lindenmeyer: Zum Schluss ein Ausblick in die Zukunft: Könnte sich die 1. Mai-Nachdemo zu einem friedlichen Ritual entwickeln?

Eisner: Nein. Konstruktive Rituale können nur entstehen, wo bestimmte Inhalte, die für eine Gruppe wichtig sind, regelmässig zelebriert werden, um eine ritualisierte Aussage rüberzubringen. Das Ritual der 1. Mai-Nachdemo beschränkt sich darauf, Gewalt auszuüben. Wenn die Gewalt wegfällt, ist auch das Ritual nicht mehr da.

Footnotes:
(1 "Gewalterfahrungen Jugendlicher im Kanton Zürich": Medienmitteilung der ETH Zürich zur Präsentation von Manuel Eisners ETH-Studie zur Jugendgewalt: www.aoa.ethz.ch/eth-intern/99-00/15_99-00/Studie_15_99-00.html
(2 "Streetparade für Risikosportler". Weltwoche-Bericht zur kommenden 1. Mai-Nachdemo in Nr. 17/01 vom 26.4.2001: www.weltwoche.ch/inframe.html?ref=http://www.weltwoche.ch/1701/17.01.ch_schwarzblock.html
(3 "Die Fremdarbeiter waren zuerst". Tages-Anzeiger-Bericht vom 26.4.2001 zur kommenden 1. Mai-Nachdemo: http://tages-anzeiger.ch/ta/taZeitungRubrikArtikel?ArtId=89189


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