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Rubrik: Interview der Woche
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Publiziert: 19.01.2001 06:00

Wertekonflikt im Umgang mit Embryos
"Es gibt keine Wahrheit in der Moral"

Laut Prof. Hans-Peter Schreiber, dem Leiter der Ethik-Stelle der ETH, müssen Wertekonflikte, etwa im Umgang mit Embryos, gesellschaftlich geregelt werden. Welches Grundrecht wiegt schwerer, das Grundrecht auf Selbstbestimmung oder das Grundrecht auf Schutz des Lebens?

Interview: Dora Fitzli

Herr Schreiber, die Meldung von vergangenem Freitag über den ersten gentechnisch veränderten Affen ANDi hat aufs Neue die Diskussion entfacht, wohin uns die Gentechnologie noch führen wird. Was war Ihre erste Reaktion?

Ich war ausserordentlich erstaunt, zumal ich ein paar Tage vorher hier an der ETH Wissenschaftler aus der Tierforschung gefragt habe: "Sagt mal, wisst Ihr, gibt es einen transgenen Affen?" Und die Antwort war einhellig: "Nein! Das wird es in absehbarer Zeit auch nicht geben." Und ein paar Tage später kam genau dieser Bericht.

Wurden aus ethischer Perspektive mit diesem Experiment Grenzen überschritten?

Im Prinzip glaube ich das nicht. Vergegenwärtigen wir uns, dass wir in der Krankheitsursachenforschung und Therapieforschung transgene Tiere zulassen und zwar nicht nur einfache Organismen, sondern eben auch höher entwickelte Säuger. Das war damals in der Genschutzinitiative auch die Meinung der Schweizer Bevölkerung. Ich sehe keinen wirklich qualitativen Unterschied in der ethischen Bewertung zwischen einem höheren Säuger, sprich Maus, Ratte, Hund oder Katze und einem Primaten, einem Rhesusaffen.

Trotzdem macht die Bevölkerung einen Unterschied zwischen Mäusen und Affen. Zudem weckt die Schaffung von geklonten oder transgenen Tieren Ängste, dass die Entwicklung in Richtung von massgeschneiderten Menschen geht. Können Gesetze eine solche Entwicklung verhindern?

Davon bin ich fest überzeugt. Seit dem 1. Januar dieses Jahres haben wir in der Schweiz ein neues, äusserst restriktives Fortpflanzungsmedizin-Gesetz. Damit können wir einzelne Ereignisse in diese Richtung zwar nicht ausschliessen, wie auch die Verkehrsordnung nicht ausschliessen kann, dass Falschfahrten gemacht werden. Doch wenn das jemand macht, dann hat er mit den entsprechenden Sanktionen zu rechnen.

- Das Argument mit den massgeschneiderten Menschen ist sehr suggestiv, aber es ist fern von jeglicher Realität. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in unserer Kultur zwei ganz wichtige Regulative haben, die einen missbräuchlichen Eingriff ins menschliche Genom verhindern: Die Selbstbestimmung jedes einzelnen und unser Verständnis von Krankheit und Therapie. Jeder Kranke möchte geheilt werden und Leiden gemildert bekommen. Dieser medizinische Zweck hat eine grosse Legitimationskraft. Doch was jenseits eines Heileingriffes ist, verliert dramatisch an Akzeptanz und Legitimation.

In den Stellungnahmen der Eidgenössischen Ethikkommission für die Gentechnik im ausserhumanen Bereich findet man rationale Abwägungen von Risiken, Gewinnen und Leiden für Mensch und Tier. Wo haben in diesen Stellungnahmen die Ängste der Leute Platz?

Die Ängste müssen Platz in der ethischen Urteilsfindung finden. Natürlich ist Angst ein schlechter Berater und zunächst ein Seismograph. Sie macht aufmerksam: Halt, hier muss näher hingeschaut werden, da muss mehr nachgedacht werden. Aber Angst kann ja nicht eine gute Grundlage sein für die Urteilsbildung.

Die Befürchtungen gehen klar in Richtung Eugenik.

Das überzeugt mich überhaupt nicht. Es gibt keinen Fall, mit dem ein Zusammenhang zwischen modernen Fortpflanzungstechnologien und dem Solidaritätsverlust mit Behinderten oder mit der Art und Weise, wie mit Behinderten umgegangen wird nachgewiesen wurde.

Mit der pränatalen Diagnostik ist auch die konkrete Angst verbunden, dass irgendwann eine Regelung in Kraft gesetzt wird, dass sich Frauen ab 35 testen lassen und ein behindertes Kind abtreiben müssen. Oder aber sie müssen die zusätzlichen Kosten selber tragen.

Damit dies nicht eintrifft, gibt es gesetzliche Regelungen, wie sie jetzt bei uns im Gesetzesentwurf zur Genomanalyse vorgelegt werden. Keine Frau wird gezwungen werden dürfen, auch wenn sie 42 Jahre alt ist, obwohl ein erhöhtes Risiko für Trisomie 21 besteht, diesen Test über sich ergehen lassen zu müssen. Und wenn sie zu einem behinderten Kind Ja sagt, darf sie versicherungswirtschaftlich nicht fallen gelassen werden. Da greift bei uns die Invalidenversicherung. Und so muss es bleiben! Da muss sich die Politik stark machen! Wir müssen über politische Massnahmen bewirken, unerwünschte soziale Fehlentwicklungen abzufedern, aber nicht durch ein Verbot einer Technologie.


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Prof. Hans-Peter Schreiber
Prof. Hans-Peter Schreiber, Leiter der ETH-Ethikstelle gross

Aber neue Möglichkeiten schaffen neue Bedürfnisse. - Wer ist verantwortlich für die neuen Technologien? Die Entwicklerinnen oder die Anwender?

Wir reden heute von Technik als einem sozialen Prozess. Das setzt immer spezielle soziokulturelle Rahmenbedingungen voraus, in denen Werthaltungen, Leitbilder, Rechtsordnungen und so weiter eine Rolle spielen. In unserer Gesellschaft sind Individualität, Selbstbestimmung und Gesundheit die höchsten Werte in der Wertehierarchie. Das ist der Nährboden für die Entwicklung neuer Technologien. Und kaum sind solche Technologien implementiert, verändern sie auch wieder unsere Erwartungen und Bedürfnisse. Das kann man nicht steuern. Kommt hinzu, dass solche Technikentwicklungen ja nicht nur auf ein Land begrenzt sind. Die Schweiz ist supranational verflochten. Die Innovationsdynamik verläuft international.

Eine breite Öffentlichkeit lehnt jegliches Experimentieren mit Embryos ab. Gleichzeitig sind Abtreibungen bis zum dritten Schwangerschaftsmonat in vielen Ländern legal. Werden da unterschiedliche Massstäbe angewendet?

Ja. Schon innerhalb Europas haben wir sehr unterschiedliche ethische Positionen: Die angelsächsische Tradition geht davon aus, dass Embryonen im Frühstadium noch kein Lebensrecht für sich in Anspruch nehmen dürfen, weil es noch keine Personen sind. - Wir auf dem Kontinent sind da ganz anderer Meinung. Wir sind viel stärker von einer idealistischen Philosophie, etwa jener Immanuel Kants beeinflusst, der zufolge die Würde des Menschen darin besteht, dass man den Menschen nicht nur als Mittel, sondern als Zweck an sich betrachtet. Wir sind daran interessiert, den Lebensschutz auch vorgeburtlichen Lebens viel umfassender greifen zu lassen.

Wenn nun eine schwangere Frau in einer Konfliktsituation ist: Welches Grundrecht zählt nun mehr? Hier sagt der Gesetzgeber, sagt unsere Gesellschaft: Wir machen eine Abstufung in der Schutzzuschreibung. Wenn wir diese beiden Grundrechte auf die Waagschale legen, wiegt das Selbstbestimmungsrecht der Frau innerhalb einer gewissen Phase mehr als das Lebensrecht des noch Nicht-Geborenen. Da gibt es einen Wertkonflikt.

Und wie werden solche Wertekonflikte gelöst?

Durch Mehrheitsbeschlüsse, nicht durch Wahrheitsentscheide. Es gibt keine Wahrheit in der Moral. Es gibt nur Plausibilitäten, und am Schluss sagt die Mehrheit, wir wollen es so geregelt haben. Ganz pragmatisch. Wir haben in der Schweiz zweimal über die in-vitro-Fertilisation abgestimmt. Beide Male hat das Schweizer Volk gesagt, wir wollen sie unter bestimmten Rahmenbedingungen zulassen. Erinnern wir uns daran, dass die Entwicklung dieser in-vitro-Fertilisation Embryonenforschung nötig gemacht hatte. Die ist im angelsächsischen Bereich passiert und nicht bei uns. Aber wir sind Nutzniesser. Und hier braucht es Transparenz. Wir können uns nicht mehr abschotten. Wir müssen uns an dieser Innovationspolitik beteiligen und zwar transnational, um mitreden zu können. Damit wir dort, wo wir wirkliche Gefahren erkennen, entsprechende Massnahmen treffen, um diese Gefahren abzufedern.


Zur Person

Der 64jährige Hans-Peter Schreiber war nach dem Studium der evangelischen Theologie und Philosophie über 20 Jahre als Gemeinde- und Studentenpfarrer in Basel tätig. In dieser Zeit schrieb er seine Promotion und Habilitation und absolvierte ein Teilstudium der Molekularbiologie und Genetik am Biozentrum der Universität Basel. Von 1986 - 1992 war er Privatdozent für praktische Ethik und Philosophie an der Universität Basel und wurde dort 1992 zum ausserordentlichen Professor ernannt.

Seit 1992 ist Schreiber Leiter der Stelle für Ethik und Technologiefolgenabschätzung an der ETH Zürich. Er ist Vorsitzender der Ethikkommission der ETH Zürich und des wissenschaftlichen Beirates des Deutschen Human-Genom-Projektes.




Literaturhinweise:
Die verfassungsmässige Grundlage zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich finden Sie in Artikel 119 der Schweizer Bundesverfassung: www.admin.ch/ch/d/sr/101/a119.html



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