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ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Interview der Woche
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Publiziert: 12.06.2001 06:00

Auf dem Weg zur digitalen ETH-Bibliothek
Revolution im Bücherregal

"Bereits in wenigen Jahren wird im Bereich Science kaum eine relevante Zeitschrift mehr gedruckt werden", erklärt Wolfram Neubauer (50), Direktor der ETH-Bibliothek, im Interview mit ETH Life. Auch die ETH-Bibliothek wandelt sich rasant von der Papierlastigkeit zum riesigen Portal für elektronisch abrufbare Information. - Für die Mitarbeitenden ein so faszinierender wie schmerzhafter Prozess.

Interview: Norbert Staub

Herr Neubauer, was haben Sie für ein Verhältnis zum Papier?

Wolfram Neubauer: Ein entspanntes. Im Zug möchte ich ein Buch lesen können und keinen PC in der Hand haben. Aber im Arbeitsalltag ist für mich der Computer das entscheidende Medium.

Braucht es in zehn oder zwanzig Jahren eine ETH-Bibliothek überhaupt noch, wenn das Wissen mittels Transfers von riesigen Datenmengen ohnehin auf jedem Laptop abgerufen werden kann? - Ein Trend, der von einem Projekt wie ETH World an dieser Hochschule ja stark gefördert wird.

Neubauer: Da sind zwei Ebenen zu unterscheiden: den Aspekt des Archivs, des langfristigen Gedächtnisses. Dafür werden die Bibliotheken auch künftig von zentraler Bedeutung sein. Dann gibt es den aktuellen Informationsbedarf: Um diesen zu decken, wird sich ein Bibliotheksbestand in seiner heutigen Form verändern müssen. Die Medien werden zwar noch da sein; aber es wird mehr darum gehen, Ihnen als Benutzer zu zeigen, wie man mit den Millionen von Informationen umgeht; darum, wie Sie aus der Fülle des für Sie Unbrauchbaren das Brauchbare herausfiltern können.

Können Sie konkretisieren, was das für die ETH bedeutet?

Neubauer: Man wird den Kunden die Wege zur global vorhandenen Information so ebnen müssen, dass sie relativ leicht finden, was sie brauchen. Man wird ihnen zusätzlich Informationskanäle anbieten können, die ihren Bedürfnissen, sagen wir: Analytische Chemie, angepasst sind. Das ist etwa mit einem Pressespiegel zu vergleichen, der ja auch nur die Informationen enthält, die für den jeweiligen Auftraggeber relevant sind. Das wird natürlich nur über technische Mittel möglich sein.

bibliothek
Buchtransport auf verschlungenen Wegen: Die komplizierten Raumverhältnisse der ETH-Bibliothek erzeugen enormen logistischen Aufwand. gross

Das ist dann aber nicht mehr das klassische Bibliotheksmetier?

Neubauer: Es ist interessanterweise gar nicht neu. Das wurde ab den sechziger Jahren etwa schon in der Pharmaindustrie praktiziert. Da sassen Angestellte, die Reviews schrieben zur aktuellen Literatur für ihre eigene, interne Klientel. Später hat man dies wieder einschlafen lassen, aus Kostengründen und weil die Informationsmenge nicht mehr zu bewältigen war. Jetzt wendet man sich dem mit maschinellen Methoden wieder zu.

Fällt der Mensch, der/die BibliothekarIn bei alledem nicht zwischen Stuhl und Bank?

Neubauer: Nein, es braucht in der ETH-Bibliothek erstens weiterhin naturwissenschaftliches Know-How, um die Information zumindest grob zu überblicken. Und wichtiger noch: Es braucht Leute, die den Kontakt zu den Forscherinnen und Forschern pflegen, die verfolgen, was in der Szene passiert. Das ist sicher etwas, was die ETH-Bibliothek in den vergangenen zwanzig Jahren vielleicht nicht in genügendem Masse getan hat.

Wie revolutioniert das Internet denn jetzt schon die Literaturbeschaffung?

Neubauer: Der klassische standortgebundene Bibliothekskatalog, als zentrales Monument einer Bibliothek sozusagen, wird sicher bald ausgedient haben. Einfach deshalb, weil im Kontext Internet zunehmend auch in hervorragenden Bibliotheken lediglich ein Ausschnitt des generell verfügbaren Angebots erhältlich ist. Der Katalog ist in der ETH-Bibliothek, wenn Sie auf die Homepage schauen(1), nur noch ein Element des Angebots, gleichberechtigt neben vielen anderen. Diesen drastischen Wandel haben auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit allen dazu gehörenden Problemen mitmachen müssen. Und dennoch: Bibliotheken werden heute nicht weniger, sondern mehr benutzt als früher.

Warum?

Neubauer: Vielleicht, weil die Bibliothek den idealen räumlichen und sozialen Rahmen für ein konzentriertes Aufnehmen der Information bietet. Entscheidender für die wachsende Nachfrage ist aber wohl, dass das Internet auch Nachfrage produziert.


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wolfram neubauer
"Die Schweiz ist in Bezug auf die Digitalisierung etwas unterentwickelt": ETH-Bibliotheksdirektor Wolfram Neubauer. gross

Und was bedeutet das Netz für das Medium Buch?

Neubauer: Ganz erhebliche Effekte sind bereits eingetreten. Laut einer internationalen Delphi-Umfrage, die eine meiner Mitarbeiterinnen im Rahmen ihrer soeben erschienenen Doktorarbeit (2) gemacht hat, wird es bis 2008 keine relevanten wissenschaftlichen Zeitschriften mehr geben, die nicht auf dem Netz verfügbar sind. Somit ist klar: Im Science-Bereich wird Print als primäres Zugriffsmedium für wissenschaftliche Aufsätze keine Rolle mehr spielen.

Im Buchbereich ist bislang der technische Stand nicht erreicht, um auf bequeme Weise Bücher im Volltext elektronisch konsumieren zu können. Der Durchbruch für das elektronische Buch wird erst kommen, wenn dramatische Veränderungen in der Präsentation eintreten, wenn man vom reinen Scan eines gedruckten Buchs wegkommt. Immerhin: die ETH-Bibliothek bietet jetzt etwa 500 ETH-Dissertationen elektronisch im Volltext an(3).

Wissensuniversum einerseits, ein Nebeneinander von grossen, mittleren und kleinen Bibliotheken andererseits, wie es auch an der ETH der Fall ist: Läuft man mit diesem Sonderzug-Denken nicht Gefahr, vom Tempo der Entwicklung überrollt zu werden? Sprich: dass manche Bibliothek sehr rasch sehr überflüssig wird?

Neubauer: Nur von der Nützlichkeit her müsste ich sagen: ja, Sie haben recht. Man könnte ein System der totalen Absprachen einführen und Doppelspurigkeiten radikal beseitigen. Aber wir leben in Zürich und an der ETH in einem gesellschaftlich-politischen Umfeld, wo nicht alles nur nach rationalen Kriterien laufen kann. Wir haben an der ETH die richtigen Schritte gemacht, die Schulleitung hat Beschlüsse zur Straffung und Harmonisierung des gesamten ETH-Bibliotheksangebots gefasst. Ich hoffe, dass wir schnell genug vorwärts kommen.

Die Institute sind ja angehalten, sich zentral katalogisieren zu lassen. Gibt es denn Widerstände?

Neubauer: Nicht in dem Bereich; von der Katalogisierung bisher nur über Zettelkataloge oder Mikrofiche nachgewiesener Bestände haben ja alle etwas. Aber wenn es darum geht, Zeitschriften abzubestellen, geht es ans Lebendige. Das hat da und dort verständlicherweise auch zu Ärger und Frustrationen geführt(4). Ziel unserer letztjährigen Aktion war, Zeitschriften, die in den Departementen und in der ETH-Bibliothek mehrfach vorhanden waren und elektronisch zugreifbar sind, abzubestellen und damit Geld zum Kauf elektronischer Zeitschriften freizumachen, die wiederum für alle zugänglich sind. Das hat unterm Strich gut funktioniert: Wir können diesen Sommer unser Angebot drastisch erweitern: zu den vorhandenen 1‘500 Titeln kommen noch einmal etwa 1‘000 hinzu.

Würden Sie es begrüssen, wenn die Institutsbibliotheken zu reinen Satelliten der ETH-Bibliothek werden würden?

Neubauer: Nein. Mein Interesse ist, das Bibliothekssystem der ETH zentral zu organisieren, die Bibliotheken aber dezentral operieren zu lassen. Es hat ja keinen Sinn, die Geologie-Literatur im Hauptgebäude zu lagern, wenn die Benutzer sich an der Sonneggstrasse befinden. Aber das übergeordnete Ziel muss schon sein, zwischen ETH-Bibliothek und Departements-Bibliotheken vermehrt Absprachen über Anschaffungen zu treffen. Das läuft zum Teil sehr gut, zum Teil weniger. Auf der anderen Seite führen finanzielle Zwänge häufig auch dazu, dass die Kooperationsbereitschaft der Beteiligten wächst.

In Deutschland gibt es Ansätze zu einer "Globalen Digitalen Bibliothek". Gibt es das in der Schweiz auch, und falls nicht, könnte die ETH nicht eine Vorreiterrolle spielen?

Neubauer: Auch in Frankreich und den USA gibt es bereits konkrete Projekte für die Digitalisierung des "nationalen Erbes". Die ETH-Bibliothek könnte eine Vorreiterrolle spielen - aber es gibt hierzulande noch kein Projekt. Ich denke, das ist ein Mangel. Im Rahmen von ETH World sind zwei Projekte beantragt, die in diese Richtung gehen. Zum einen: An der ETH vorhandene digitale Dokumente sollen zentral zur Verfügung gestellt werden. Zum anderen: Im Bereich Architekturgeschichte wird an der Digitalisierung von wissenschaftlichen Dokumenten gearbeitet. Nicht zu vergessen: "Konsortium Schweiz", das erste nationale Projekt aller Schweizer Universitätsbibliotheken. Da geht es um die Verfügbarmachung elektronischer Produkte für alle Schweizer Bibliotheken. Im Vergleich muss man sehen: die Schweiz ist da etwas unterentwickelt.

Es gibt den Plan, die Bibliothek umzubauen...

Neubauer: ... Es gab; die ETH ist weltweit wohl die einzige Hochschule mit einer riesigen Bibliothek, aber gleichzeitig ohne Bibliotheksgebäude. Das erzeugt natürlich enorme logistische Probleme. Hier sollte zur 150-Jahrfeier im Jahr 2005 eine gewisse Entlastung kommen; mit dem Umbau der Lesesäle auf dem H-Stock und der Einrichtung eines Freihandbereichs. Andere Prioritäten - der Ausbau auf dem Hönggerberg - haben nun dazu geführt, dass diese Pläne zurückgestellt wurden. Ich bedaure das sehr, zumal der Bedarf offensichtlich ist: Wir haben gigantische Ausleihzahlen - ganz einfach darum, weil man wegen des fehlenden Freihandbereichs alles ausleihen muss. Wir machen das beste draus und versuchen mit einer Reihe von kleinen Veränderungen Verbesserungen zu schaffen.


Fussnoten:
(1) Vgl. hierzu den ETH-Life-Bericht "Wichtig ist die Information" vom 1. März 2001: www.ethlife.ethz.ch/tages/show/OnlineBibliothek.html
(2) Alice Keller: Zeitschriften in der Krise. Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin, 2001.
(3) Das elektronische Dissertationen-Angebot der ETH im Überblick: http://e-collection.ethbib.ethz.ch/ediss/
(4) Vgl. hierzu den ETH-Life-Bericht vom 22.11.2000: "Die Schmerzgrenze ist erreicht" www.ethlife.ethz.ch/tages/show/Bibliothek.html



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