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ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 31.01.2001 06:00

ETH World - Phasenübergang im Informationsraum?
Eine Chance für die Zukunft

Von Reinhard Nesper

Am vergangenen Mittwoch sprach Professor Manfred Eigen, Physikochemiker und Nobelpreisträger, in der Chemischen Gesellschaft über "Selektion aus Phasenumwandlung im Informationsraum". Mit faszinierender Eloquenz, die von über achtzig Jahren Lebens- und nicht viel weniger Forschungserfahrung getragen wird, berichtete er amüsant und gleichzeitig mit brillanter Klarheit über seine jahrzehntelangen Studien von Informationssystemen, beispielsweise über Mutationsketten bei RNA- und DNA-Lebewesen, sowie über die Randbedingungen für Weitergabe oder Verlust von Information. Danach kann ohne eine gewisse kritische Veränderung der Information keine kreative Entwicklung stattfinden.

Bei zu starker Veränderung tritt ein Informationsphasenübergang auf und eine statistische Informationsflut - ein nutzloses Informationsgas - kann entstehen. Der optimale Weg einer kreativen Informationsentwicklung verläuft offenbar entlang einer quasi-fraktalen Trajektorie zwischen den Extremen und - trivial, aber eben wichtig: Es gibt keine Entwicklung ohne kontrolliertes Vergessen. Jeder, der sich mit Informationsnetzen beschäftigt hat, wird dieses schon intuitiv bestätigen.

Virtuelle Realitäten

Diese Thematik ist engstens verknüpft mit der Frage: "Wie virtuell müssen wir an der ETH werden und wie real wollen wir bleiben?" Nun, die Entscheidung für die Erweiterung unserer Erfahrungs- und Informationswelten mit Hilfe neuer Medien - wenn man mutig sein will, über neu(artig)e Sinne und Ressourcen - ist ohne Frage gefallen. Es gab sie ja nie wirklich; es gab und gibt mit unveränderter Brisanz nur die Entscheidung, ab wann man sich die Mühe und die Zeitfenster zugesteht, um mit aus unserer Sicht (noch) mangelhaften - eben "unmenschlichen" - Systemen zu arbeiten.

Immer wieder hört man sagen: " Wir haben doch schon E-Mail, Homepages, undsoweiter. Wenn ich "ETH World", "ethworld", "ETH-World" oder "ETH WORLD" in die interne Suchmaschine der ETH eingebe (ich gebe zu, mit griechischen Buchstaben habe ich's nicht versucht), dann kommt virtuell und real nichts, aber auch gar nichts. Man muss schon über eine externe Suchmaschine gehen, um http://www.ethworld.ch zu finden. Ähnliches gilt für "Polyprojekt" oder "transdisziplinär". Bei Eingabe von "interdisziplin(är)" kommt die EMPA als einziger Eintrag und ich lese: "Wir forschen und prüfen für Sie"; ich möchte aber mitforschen und zwar interdisziplinär - und finde nichts dazu, obwohl ich weiss, dass vieles bereits existiert. Solche Probleme halten die meisten noch davon ab, wirklich in Netzwerkarbeit einzusteigen.

Die Mehrheit gewinnen

Wir müssen weg von der (systematischen) Abhängigkeit von Zufallsinformationen oder administrativ aufwändigen Fragesequenzen, bis man endlich die gewünschte Information hat. Ich will keine lange Liste der Nachteile unseres heutigen virtuellen Informationsnetzes anführen, wir haben alle einmal gelitten, aber die meisten eben auch schon profitiert. Nur virtuelle Informationsnetze können die heute vorhandenen Informationslücken gut schliessen (sonst wären diese vermutlich eben auch schon geschlossen). Das Fazit ist einfach: Man möchte, dass das virtuelle Netz besser, intelligenter, lernfähiger, variabler, wählerischer und ausreichend vergesslich wird. Nur dann werden die meisten verstärkt damit arbeiten können und wollen. Diese Mehrheit muss aber gewonnen werden für den erweiterten Informationsaustausch über das elektronische Netz.

Es ist wie bei der Lehre: Die Besten brauchen eigentlich gar keine Lehrer, nur Informationen, aber diejenigen, die den Kick noch nicht haben, brauchen sie! Das virtuelle Netz soll so viele Kontakte wie möglich zwischen Studierenden, Lehrern und Forschern, von Firmen, Medien und Politikern mit der ETH erlauben.


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Berührungsängste

Gerade diejenigen, die sich nicht so stark mit der neuen Technologie befassen oder befassen können, dass sie sich nicht jedes Mal über Geheimsprachen, Unlogik oder unvermittelte Fehler ärgern, wenn sie einen neuen Anlauf machen, brauchen nutzerfreundliche lernfähige Input-Output-Oberflächen. Und das betrifft nicht nur die Älteren: Auch bei Studierenden bemerke ich immer wieder gewisse Berührungsängste zu Netzinformationen. Nur die grosse Mitte kann eine neue virtuelle Kultur "salonfähig" machen, die unsere reale Kultur sinnvoll erweitert. Eine solche Kultur wird aber nur entstehen, wenn die Akzeptanz gross genug ist. ETH World ist endlich eine konzertierte Aktion in diese Richtung.

Der internationale Wettbewerb ist ein avantgardistischer Schritt in Richtung Insourcing gewesen. Für diejenigen, die sich schon länger mit der Materie auseinandersetzen, ist das Ergebnis ambivalent: Viele Beiträge bleiben zu sehr an der Oberfläche und konzentrieren sich auf Kodierungen in Collagenform. Immerhin ist man sich jetzt aber sicherer, dass die ETH-internen Projekte zu ETH World (die schon vor über einem Jahr begonnen wurden) vielfältig, angemessen und erfolgversprechend sind. Es sollten bald noch viel mehr Projekte entstehen, wobei es immer wichtiger wird, regelmässigen Erfahrungsaustausch zu pflegen, damit ein möglichst einheitliches System entsteht und Parallelarbeiten vermieden werden können.

Zwei Kernsätze

Für diejenigen, die sich bisher nicht mit dem Thema einer dritten, virtuellen ETH-Plattform zwischen Zentrum und Hönggerberg befasst haben, mag die Ausstellung des Wettbewerbs, die noch bis zum 29. März im HIL zu sehen ist, ein Ansporn sein, dieses wichtige gemeinsame Projekt mitzuprägen. Zwei Kernsätze, der erste von der Jury und der zweite vom Projektgewinner, drücken das aus, was auch mir vorschwebt:

auflistungszeichen The principal merit and the visionary quality of this proposal (winner) lie in its emphasis on the user and on their access to the data rather than on the data itself.

auflistungszeichen The on-line collaboration of project team members separated by space or the mobile access to knowledge bases stimulates the creation of knowledge in a communicative process.

ETH-Angehörige werden zu "Netizens"

Was können wir dabei gewinnen? Für Forschung, Lehre und Service viel, das ist keine Frage. Beantwortet werden muss aber im Einzelnen, wie die Gewichtung virtuell/real aussehen sollte. Man wird viele ETH-Angehörige zu "Netizens" machen, wenn man relativ schnell Antworten auf allgemeine Fragen anbieten kann. So etwa: An welchen interdisziplinären Themen arbeiten welche Gruppen an der ETH bereits zusammen? In der nächsten Stufe sollten Kooperations- und Austauschebenen entstehen, die ohne Spezialkenntnisse nutzbar sind. Vieles andere wird sich dynamisch entwickeln, weil nur die Benutzer die aktuellen Fragen stellen und die zugehörigen Antworten geben können (im Unterschied zum Wettbewerb). Am Ende sollte die reale Begegnung den Gewinn davontragen: Standardisiertes und Standardisierbares ins Netz, dafür mehr Zeit für kreative persönliche Kommunikation. Nur wenige Hochschulen können heute ein solches Projekt beherzt und mit dem notwendigen Einsatz angehen. Das ist eine herausragende Chance für die Zukunft.

Keine Welt ohne Bewohner - machen Sie mit, ETH World braucht Sie!


Zur Person

Reinhard Nesper, geboren 1949 in Elze bei Hannover/Deutschland, ist seit Oktober 1990 ordentlicher Professor fur Anorganische Chemie an der ETH. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Festkörperchemie, Strukturbestimmung und Elektronenstruktur fester Stoffe. Beliebt sind seine Weihnachtsvorlesungen, beispielsweise Far from Equilibrium.






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