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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 13.06.2001 06:00

Artefakte und Begriffe I: Brückenköpfe

Von David Gugerli

Plötzlich sind sie da, die neuen Wörter, breiten sich aus, ohne erkennbare Promotoren zu haben, besetzen zuerst unsere Sprache, dann unsere Gedanken und bald auch einmal unsere Wirklichkeit. "Shareholder value", "mobbing" oder "political correctness" – sie alle tauchten als Begriffe seinerzeit ganz unvermutet auf, haben eine steile Karriere durchlaufen und sind sehr schnell auch handlungsleitend geworden. Bis zum wirtschaftlichen Ruin ihrer Verfechter, zur neurotischen Verunsicherung ihrer Opfer oder zum ideologisch gefestigten Definitionsmonopol ihrer Meistersänger.

Mit "Sprache – Denken – Wirklichkeit" ist einst ein posthum veröffentlichtes Büchlein von Benjamin Lee Whorf überschrieben worden. Eine Schrift, deren Gedanken seit Jahrzehnten die humanen unter den Wissenschaften beschäftigt. "How to do things with words?" ist jedenfalls bis heute die ins pragmatische gewendete Frage geblieben, welche längst nicht mehr nur Linguisten beschäftigt und der man gerne und immer wieder nachgehen möchte. Auch an der ETH.

Von "Kundenorientierung" habe ich vor drei Jahren gerade noch etwas gehört, da war sie auch schon wieder weg. Wahrscheinlich deshalb, weil niemand so recht sagen konnte, wer an einer Hochschule denn wessen Kunde ist. Andere Begriffe sind dagegen wesentlich zählebiger. Und gerade deshalb lohnt es sich, sie in ETH Life zuhanden einer lebendigen ETH genauer auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen. Von "Brückenköpfen" ist derzeit wieder ganz besonders die Rede. Sie seien zu Unrecht verpönt, behauptete Dieter Imboden in einer Replik auf Thomas Bernauers Kolumne, die gegen vieles - ausser gegen Brückenköpfe - polemisierte. Diese Empfindlichkeit hat mich aufhorchen lassen.

Als Begriff, als Institution und als Vorstellung bieten sie ja Erstaunliches an, die Brückenköpfe. Verwirrend ist nur schon die Tatsache, dass auch alteingesessenes ETH-Personal eigentlich nicht so recht weiss, woher das Wort kommt und wann es eingeführt wurde. Auch in Arbeitsgruppen ist man sich nicht immer einig, was nun wirklich ein Brückenkopf sei und was auf keinen Fall. – Da hatten es die Redaktoren von Meyers Conversationslexikon, welches 1890 in vierter Auflage erschienen ist, wesentlich leichter. Ein Brückenkopf, so schrieben sie in militärtechnischer Versiertheit, sei eine Befestigungsanlage vor einer Brücke, "bestimmt, den Feind am Übergang über die letztere zu hindern" oder aber "dem Verteidiger die Verbindung über den Fluss zu erhalten."

Gute dreissig Jahre früher hatte Friedrich Engels darauf hingewiesen, dass Brückenköpfe sogar Brückenköpfe sein können, wenn ihnen die Hauptsache, nämlich die Brücke, fehlt. Jedenfalls werde, so Engels wörtlich, "eine Befestigung auf der dem Feinde zugewandten Seite eines Flusses oder Meeresarmes oft Brückenkopf genannt, auch wenn es dort keine Brücke gibt, da die Befestigung die gleichen Aufgaben erfüllt und strategisch gesehen in dieselbe Klasse gehört, weil sie die Möglichkeit gibt, unter ihrem Schutz Truppen zu landen und Vorbereitungen für offensive Operationen zu treffen."


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prof david gugerli
David Gugerli

Eine ETH, die das Zeitalter der Vorherrschaft des "militärisch-pädagogischen Komplexes" langsam aber sicher überwunden hat, also eine zivilisierte, an verständigungsorientiertem Handeln, an Austausch, Kooperationen und Netzwerken, an Flexibilität und Innovation interessierte Hochschule täte gut daran, auf "Brückenköpfe" als Integrations- oder Annexionsmittel jenseits der disziplinären Fronten zu verzichten. Denn Einrichtungen, unter deren Schutz "Truppen zu landen und Vorbereitungen für offensive Operationen zu treffen" sich anschicken, werden immer suspekt bleiben. Gewiss, Brücken brauchen wir, mehr denn je. Zwischen den Disziplinen, zwischen den Departementen, zwischen der Hochschule und der Öffentlichkeit. Und Köpfe, die Verbindlichkeit herstellen und unterhalten ebenfalls. Doch dafür sind mitunter neue Begriffe zu wählen, damit die alten nicht vielleicht doch noch das Denken in falsche Bahnen lenken und der Wirklichkeit nachhaltig schaden können.


Zur Person

Das Label des "Paradiesvogels" trägt er mit Stolz: David Gugerli wurde kürzlich zum ordentlichen Professor für Technikgeschichte an der ETH ernannt - eine Premiere für die Schweiz. Er studierte Allgemeine Geschichte, Literaturgeschichte und Literaturkritik an der Universität Zürich. Nach seiner Promotion 1987 forschte und lehrte er an verschiedenen Universitäten in Europa und Amerika, unter anderem an der Stanford University. 1995 habilitierte sich David Gugerli an der Universität Zürich. Arbeiten zur Geschichte der Visualisierung im wissenschaftlichen Kontext, zum Verhältnis von Kartographie und Nationenbildung im 19. Jahrhundert, zum Diskurs über die Elektrifzierung der Schweiz oder über den Wandel in der Schweizer Kommunikationstechnologie seit 1960 stecken sein breites Forschungsinteresse ab.






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