ETH Life - wissen was laeuft

Die tägliche Web-Zeitung der ETH Zürich - in English

ETH Life - wissen was laeuft ETH Life - wissen was laeuft
ETH Life - wissen was laeuft
Home

ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
Print-Version Drucken
Publiziert: 01.10.2003 06:00

Vom Nutzen der Historie für die Wissenschaft

Von Barbara Orland

Zu den besonderen Charakteristika der Arbeit Paul Feyerabends zählt zweifelos sein Umgang mit der Geschichte. Immer wieder nahm er in seinen Versuchen, die Erkenntnisprozesse der Naturwissenschaften zu analysieren, Bezug auf historische Entwicklungen. Dabei ging er nicht nur, wie innerhalb der Philosophie üblich und von ihm meisterhaft beherrscht, an die Textexegese berühmter Vorgänger heran. Obwohl er häufig ausgearbeitete Theorien zur Grundlage seiner Überlegungen machte, so erörterte er diese nicht mit dem Ziel, die in dem jeweiligen Theoriegebäude enthaltenen Kriterien zum Werkzeug seiner Erkenntnistheorie zu machen. Auch war ihm nicht an einem „historisch korrekten“ Nachvollzug der Entwicklung menschlicher Ideen, im Sinne eines kumulativen Wissensfortschrittes, gelegen. Für Feyerabend waren wissenschaftliche Theorien selbst ausgezeichnete Beispiele historischen Wissens. Er befasste sich eingehend mit ihnen, um sich explizit gegen ein Verständnis von Wissenschaft zu wenden, das diese von konkreten und wandelbaren menschlichen Erfahrungen abzutrennen gedachte. Des Philosophen Art, sich mit Geschichte zu befassen, ist daher nicht von seiner Wissenschaftsreflexion zu trennen und folglich auch für all jene von Interesse, die Geschichte als Wissenschaft betreiben.

Die Schlüsselbegriffe, die seinen Zugang zur Geschichte erklären, sind „Praxis“ und „Tradition“. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Vernunft oder Rationalität und Praxis, so lautete eine von Feyerabends Hypothesen. Man kann das Denken nicht als eine überhistorische, abstrakte Form konstruieren und als Instanz der Vernunft jenem zufälligen Material gegenüberstellen, das die soziale Welt über die Zeitläufte hinweg produziert hat. Die Arbeit der Philosophen an ihren Regelgebäuden muss selbst als „Praxis“ begriffen werden und damit als eine Tradition. Dass sich Philosophen wegen ihrer besonderen Perspektive dagegen sträuben, ihre Arbeit als eine Tradition aufzufassen und infolgedessen als historisch kontingent einzustufen, mochte Feyerabend nicht gelten lassen. Für ihn ging es darum den Nachweis zu erbringen, dass „Vernunft“ oder „Rationalität“ keine grundlegenden Massstäbe menschlichen Handelns sind, sondern lediglich eine besondere Denk- und Handlungsform, die auf gleicher Stufe mit vielen anderen ihrer Art stehen.

Zwei Schlussfolgerungen waren aus dieser These zu ziehen: Erstens musste angenommen werden, dass sich bestimmte Theoriegebäude unter spezifischen historischen Umständen entwickeln und ihre Ergebnisse und Wirkungen aus einem konkreten Kontext heraus zu verstehen sind. Ob Galilei, Descartes oder Popper, ihre Denkgebäude waren im eigentlichen Sinne des Wortes zu historisieren. Zweitens ging Feyerabend davon aus, dass auch die Impulse der Veränderung eher in der Geschichte sozialer Interaktionen zu finden sind als in der Originalität eines neuen Theoriegebäudes. Schliesslich stehe die Praxis in einem Spannungsfeld mit anderen Traditionen. Aus den Wechselwirkungen verschiedener Traditionen entstehe genügend Zündstoff für Veränderung.

Entscheidend nun ist, dass Feyerabend nicht versuchte, eine Geschichte der Erkenntnistraditionen gegen eine philosophische Erkenntnistheorie auszuspielen. Als Teil seines Programms einer politischen Reformierung der Philosophie koppelte er vielmehr Geschichte und Philosophie aneinander, indem er eine dritte Ebene einführte, den Standort der Betrachtung betreffend. Dieses Prinzip der Selbstreflexion, mit denen Traditionen und die Verläufe ihrer Wechselwirkungen studiert werden sollten, drückte sich Feyerabend zufolge in zwei Arten von Fragen aus: dem Geschäft des Historikers entsprächen am ehesten die von aussen herangetragenen Beobachterfragen, die beschreiben und zusammenfassen, und nicht in erster Linie bewerten wollen. Als Teilnehmerfragen – die dem Philosophenstandpunkt näher kommen – bezeichnete er hingegen solche Fragen, die Mitglieder einer Tradition in Auseinandersetzung mit einer anderen stellen. Solche Fragen, die sich gewissermassen in den Disput mit einer vergangenen Theorietradition begeben. Beide Standorte wurden als variabel und flexibel gezeichnet, und es kam gar nicht darauf an, sich zwischen der einen oder anderen Position zu entscheiden.


weitermehr

Barbara Orland, Oberassistentin am ETH-Institut für Geschichte

Der Witz dieser Unterscheidung liegt vielmehr darin, dass sie Feyerabend zu jenen Aspekten hinführte, die er als grundlegend für jede Form der Wissenschaft ansah. Es ist dies jene Mischung aus Skepsis und Opportunismus, aus Anpassung und Manipulation, aus langfristigen Forschungsprogrammen und Ad-hoc-Entscheidungen, die er als realistische und pragmatische Strategien in nahezu jedem Forschungsgebiet zum Zuge kommen sah. Selbst in der reinen Mathematik würde man sich nicht sklavisch an die vorgegebenen Regeln halten, sondern offen auf Zufälle und Überraschungen reagieren, um zu sehen, wohin die Reise schliesslich führe. Das Programm eines philosophischen Pragmatismus lautete entsprechend: „...wenn man die zu beurteilenden Traditionen und die zu beeinflussenden Entwicklungen als vorübergehende Hilfskonstruktionen für ordentliches Denken und wirkungsvolles Handeln und nicht als ihre bleibenden Bestandteile ansieht.“

Wie Paul Hoyningen-Huene mehrfach betont hat, ging es Feyerabend nicht darum zu behaupten, Wissenschaft sei ein Unternehmen, in dem man ganz nach Lust und Laune beliebig vorgehen könne. Feyerabend würde gründlich missverstanden, wollte man ihn zu einem der Päpste postmoderner Philosophie stilisieren. Vielmehr habe er nur immer wieder darauf hinweisen wollen, dass Wissenschaft sich nicht durch das Befolgen absolut bindender Regeln charakterisieren lasse, wie es die Philosophen immer wieder verlangt haben. Wenn aber die Existenz von methodischen Anweisungen in der Wissenschaft und auch ihr Erfolg nicht geleugnet werden, dann besteht die Notwendigkeit einer angemessenen Sprache und Beschreibungspraxis, um mehr Realismus in erkenntnistheoretische Debatten zu bringen. Hier hilft die historische Perspektive weiter, nicht als Schiedsrichter- sondern noch am ehesten als Übersetzerfunktion, die zwischen verschiedenen Traditionen und Disziplinen vermittelt. Feyerabend hat Episoden der Wissenschaftsgeschichte herangezogen, um seine These zu untermauern, dass das Fortkommen der Wissenschaften oft nur durch Verletzung der jeweiligen Regeln möglich war. Das mag manchem Historiker als manipulative Geschichtsschreibung erscheinen, ist es aber nicht, so lange die Motive offen gelegt werden. In dieser Hinsicht war Paul Feyerabend einzigartig ehrlich und streitbar – und so könnte es auch in den laufenden Auseinandersetzungen geschehen.


Zur Person

Sie betreibe die Geschichte der Technik als "historische Konfliktforschung", sagt Barbara Orland, seit 1999 Oberassistentin am ETH-Institut für Geschichte. Zuvor lehrte und forschte sie vor allem an der TU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum sowie am Deutschen Museum München. Zur Technikgeschichte kam sie über ihre Doktorarbeit zur Sozial- und Technikgeschichte der Wäscherei seit dem 18. Jahrhundert. So weit gefasst ihre Interessen sind: sie kreisen alle um das Thema "Technisierung des Privten durch Medizin- und Biowissenschaften". - Was macht die Technik denn so konfliktträchtig? Neue Technologien bringen oft das Werte- und Wahrnehmungsgefüge ins Wanken, sagt Barbara Orland - man nehme bloss die heutige Stammzell- und Klondiskussion mit ihren unabsehbaren Weiterungen.






Sie können zu diesem Artikel ein Feedback schreiben oder die bisherigen lesen.




!!! Dieses Dokument stammt aus dem ETH Web-Archiv und wird nicht mehr gepflegt !!!
!!! This document is stored in the ETH Web archive and is no longer maintained !!!