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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 01.12.2004 06:00

Die Welt ist eine Scheibe und andere Illusionen

Von MIchelle Flückiger

Ich steige die Treppenstufen zum Chemiegebäude hoch, den Geruch der Lösungsmittel in der Nase und halte kurz vor der Eingangstüre inne: dicker Nebel liegt über dem Lac Léman. Es ist, als sei die Welt hier zu Ende: der Abgrund ins Nichts. Ob Kolumbus bei diesem Anblick losgesegelt wäre?

Fertig gestaunt, die Arbeit ruft! Schlage ich mich jetzt mit der Qual der Wahl herum, welche der unzähligen Aspekte meines Rutheniumkatalysators weiter zu verfolgen seien, so hatte ich anfänglich noch ganz andere Probleme. Ein deutschsprachiger Assistent wurde damals mit meiner Einführung betraut: „Deine Kapelle musst du noch putzen, hätte eigentlich gemacht werden sollen... ist eh alles nur Rost.“ In einer Ecke der Kapelle stand eine Plastikflasche, gefüllt mit einer undefinierbaren braunroten Flüssigkeit. Äusserst zweifelhaft, diese Rosttheorie. Vielmehr schien sich mein Vorgänger mit der Explosionsfähigkeit eben dieser Flüssigkeit beschäftigt zu haben...

Kurz darauf bekam ich eine trübe gläserne Apparatur in die eine und eine bereits vor Überresten jeglicher Art strotzende Bürste in die andere Hand gedrückt. Irritiert machte ich mich daran das Unding (welches nun meine Vakuum- und Stickstoffzufuhr reguliert) zu säubern und fragte mich, ob mir das Los ewig dreckiger Glaswaren bereits bei Geburt beschieden worden sei (an der ETH pflegte ich ein Dauer-Laugenbad in Betrieb zu haben, die einzig anschlagende Methode um die hartnäckigen Spuren meiner „Kochkünste“ loszuwerden). Im ähnlichen Stil erhielt ich schliesslich meine gesamte Arbeitsausrüstung zugeteilt. Die Frage nach zusätzlichen Sicherungsklammern für die Apparaturen löste bei meinem Betreuer nur ein mitleidiges Lächeln aus: „Einmal Vakuum ziehen, dann hält’s schon!“


zur Person

Den Dingen auf den Grund gehen: ein wichtiges Merkmal, das Michelle Flückiger auszeichnet. Die 22-jährige ETH-Chemiestudentin im 5. Semester war die einzige Frau im studentischen Quintett, das in Vorwegnahme von Science City schon einmal sein Quartier auf dem Hönggerberg bezogen hatte, probeweise. Campus-Feeling könnte der Hönggerberg klar mehr vertragen, meint Michelle Flückiger: „Der Sommer gibt jeweils einen Vorgeschmack darauf“, sagt sie. „Denn dann machen jene Studis, die sich auf die Prüfungen vorbereiten, den Hönggerberg zum Lern-Camp.“ An sich kann sich die Wallisellerin mit ihren 37 Stunden Präsenzzeit plus mindestens 18 Stunden Selbststudium nicht über Beschäftigungsmangel beklagen. Doch ihre Energie – siehe Wohnexperiment – reicht weiter: So berichtet sie als freie Journalistin regelmässig für eine Regionalzeitung über Kultur-Themen, und als leidenschaftliche Tänzerin trainiert sie intensiv Salsa. Derzeit verbringt sie ein Semester an der EPF Lausanne. Als „Siedlerin“ hat sich Michelle Flückiger also einen Wissensvorsprung über das Campus-Dasein erarbeitet. Zum Beispiel „dass ein Heimweg auch etwas Gutes sein kann.“ Er schaffe Abstand, den es für kreatives Forschen und Lernen eben auch braucht. „Denn es gibt auch ein Leben ausserhalb der ETH.“ Sie selbst scheint der lebende Beweis dafür zu sein.




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Kolumnistin Michelle Flückiger, zurzeit Gaststudentin an der EPF Lausanne.

Je länger, desto hilfloser fühlte ich mich. Was nützte mir jetzt meine ganze Erfahrung aus den vier bisher absolvierten ETH-Praktika? Gewöhnt an nahezu perfekt eingerichtete Arbeitsplätze, Glaswaren, die zumindest beim ersten Gebrauch einen sauberen Eindruck machen und darauf getrimmt, dass man jeden einzelnen Schliff mit Klammern zu fixieren, jeden Schlauch mit Briden zu umschliessen und jeden Kolben mit einer Metallgreife vor dem Umfallen zu sichern habe, fand ich mich hier in einer Welt wieder, die geprägt von Improvisation und Erfindergeist völlig neue Anforderungen stellte.

Das ETH-Studentlein, welches vorwitzig die Welt entdecken wollte, im Glauben, mit seiner Elite-Ausbildung überall zurecht zu kommen, fand sich mit einem Mal in der Realität wieder, unfähig auch nur die simpelsten Laborhandgriffe auszuführen. Hinzu kam, dass nach der Einführung eine frankophone Betreuerin sich meiner annahm und obschon die Vorlesungen und das tägliche Leben bereits ganz gut zu bewältigen waren, so stellte dies eine neue Dimension der bisher erfahrenen Probleme dar."Prends un ballon, mets le sous vide et puis sous azote…peut-ętre il te faut aller chercher des nouveaux tuyaux, mais on va voir… " Au secours, was um Himmelwillen ist ein Ballon, was vide, was azote und bitte wo und was soll ich kaufen gehen?

Mittlerweile sind diese anfänglichen Schwierigkeiten behoben. Ich lernte, dass man Kolben auch mit Tesafilm an Korkuntersätze festkleben kann, sich luftempfindliche Produkte ohne weiteres unter starkem Stickstofffluss via Pipette von Kolben A nach Kolben B transferieren lassen. Und dank dem wöchentlichen Krafttraining bin ich nun auch im Stande, den 50-Liter-Flüssig-Stickstoffbehälter alleine anzuheben, um mich seines Inhaltes zu bedienen.

Dennoch, die Desillusion über meinen von der ETH vermeintlich perfekt gepackten Laborrucksack bleibt. Was nutzt es auf dem Berg der Weisheit in einem Palast aus Stahl und Marmor eine Elite heranzuzüchten, die auf völlig realitätsfremde Arbeitsbedingungen angewiesen ist? Nach vier Jahren schimpfen wir uns MSC (Master of Science in Chemistry), haben aber ausser unseren vergoldeten Laboratorien noch nie etwas gesehen, was der Wirklichkeit nur annähernd entspräche.

Die Welt ist eine Scheibe und mir kann mit dem ETH-Titel nix mehr passieren. Weit gefehlt - das sollte spätestens seit Kolumbus bekannt sein!




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