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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 23.10.2002 06:00

Forschung mit Nebenwirkungen

Von Katja Wirth

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Sind Sie auch immer wieder fasziniert von den genialen Entdeckungen der Neurowissenschaften? Seit der Entwicklung der bildgebenden Verfahren erlebt die Hirnforschung einen riesigen Boom. Verfahren wie die Positronen-Emissions-Tomografie (PET)oder die funktionelle Magnet-Resonanz-Tomografie (fMRI) erlauben es, eine immer umfassendere Kartographie des Hirns zu erstellen und immer noch erstaunlichere Resultate zutage zu fördern. Millionen werden in die Hirnforschung investiert, und an vielen Universitäten werden Kompetenzzentren für Neurowissenschaften eingerichtet. Das ist natürlich sinnvoll, denn Krankheiten wie Alzheimer, an der weltweit schätzungsweise 20 Millionen Menschen leiden, kann man so auf die Spur kommen.

In den USA wird zur Zeit mittels der bildgebenden Verfahren das Syndrom APS (antisoziale Persönlichkeit) untersucht. Personen mit diesem Syndrom besitzen kein Mitgefühl für andere Menschen, keine Schuldgefühle und keine Reue. Die Bemühungen der Forscher zielen darauf ab, aufgrund bestimmter Hirnaktivitätsmuster der Betroffenen diagnostische Kriterien für eine frühe Erkennung des Syndroms aufzustellen. Möglicherweise kann man in Zukunft die Gesellschaft vor Gewaltverbrechern schützen – doch wohin werden solche Forschungsergebnisse langfristig führen? Ein Horrorszenario, das man so ähnlich aus der Genforschung kennt: Die Bevölkerung wird schon im Kindesalter in den Tomographen geschoben, damit allfällige Krankheiten erkannt werden können. Der Staat verfügt über neurologische Fingerabdrücke seiner Bürgerinnen und Bürger und kann ihnen direkt ins Hirn schauen.

Obwohl dieses Szenario übertrieben ist, lässt sich nicht abstreiten, dass auch die Neurowissenschaften an einem Punkt angelangt sind, an dem ethische Überlegungen angebracht sind. Die Fragen, die sich hier stellen, sind: Was darf alles erforscht werden? Und wie soll mit den Forschungsresultaten umgegangen werden?

So neu sind diese Fragen nicht, und sie betreffen auch viele unterschiedliche Disziplinen. Das prominenteste Beispiel ist wohl die Diskussion um die Entwicklung der Atombombe – ein Forschungszweig, dessen Resultate und Entwicklung weitreichende und verheerende Folgen hatte. Hätten ihre Entwickler die Atombombe verhindern können? Standen solche Entscheidungen überhaupt in ihrer Macht?


Zur Person
Als begeisterte Fechterin kann Katja Wirth in ihren ETH-Life-Kolumnen Präzision, und wenn’s sein muss, kämpferische Qualitäten gut zur Geltung bringen. Die Assistentin am ETH-Institut für Hygiene und Arbeitsphysiologie hat Psychologie und Neurobiologie studiert. Jetzt arbeitet sie bei Professor Krueger an einer Doktorarbeit zum aktuellen Thema Fluglärm. In der grossangelegten „Lärmstudie 2000“ werden die Auswirkungen des Fluglärms auf die betroffenen Menschen untersucht. Katja Wirth engagiert sich zudem im Vorstand der Vereinigung der Assistierenden der ETH (AVETH). Ausserdem setzt sie sich auch schweizweit für die Assistierenden ein: nämlich in der „ActionUni“ (http://www.action-uni.ch/de/index.html), einem Forum über die Arbeitsbedingungen der DoktorandInnen an Schweizer Universitäten.



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Katja Wirth, Assistentin am ETH-Institut für Hygiene und Arbeitsphysiologie und AVETH-Vorstandsmitglied. gross

Tatsache ist, dass es die Idee der Atombombe bzw. der Kernspaltung lange vor dem Zweiten Weltkrieg gab; sie ist sowohl in literarischen als auch in politischen und naturwissenschaftlichen Texten Jahre und Jahrzehnte früher zu finden. Die Entwicklung der Atombombe wurde zweifelsohne durch den Krieg zwar vorangetrieben; hätte sie aber nicht sowieso stattgefunden? Anders gefragt: Trifft die Forscher überhaupt Verantwortung? Sie taten ja nur ihren Job: sie forschten und entwickelten.

Diese Frage nach den Konsequenzen unserer Forschung und der Verantwortung dafür ist heute, im Zeitalter der Life Sciences, brisanter denn je; erstaunlich, dass sie nicht häufiger gestellt wird. Aber wessen Aufgabe ist es denn, solche Fragen zu stellen, und wessen Job ist es, sie zu beantworten? Was viele, sowohl Forschende, als auch Anwendende (z.B. Politiker oder Unternehmen) vergessen: Auch Forschungsergebnisse sind oft ein Produkt, das auf irgend eine Weise vermarktet wird. In jedem Medikament, das auf dem Markt ist, findet man eine Packungsbeilage, auf dem die Nebenwirkungen aufgeführt sind. Auch die Forschung hat nebst vielen positiven Effekten Nebenwirkungen, die zum Teil unheilbare Schäden anrichten können. Doch diese Nebenwirkungen werden in der Regel weder erhoben noch aufgeführt. Bis jetzt stellt kaum jemand eine Packungsbeilage für Forschungsresultate her – die Forschenden und die Anwender sind sich selbst überlassen. Zumindest sind an verschiedenen Institutionen Ethikkommissionen ins Leben gerufen worden; deren Aufgabe ist es aber zumeist in erster Linie, die Gefahren für die Versuchspersonen oder –tiere abzuschätzen.

Ein Lösungsansatz könnte sein, dass solche Fragen vermehrt interdisziplinär angegangen werden. Der einzelne Forscher sollte sich auf jeden Fall die Frage nach den Konsequenzen und der Verantwortung seiner Forschung stellen – und erst recht sollten dies seine Auftraggeber tun. Beantworten können sie diese Fragen nicht unbedingt, und das ist auch nicht weiter schlimm. Denn hier sollten andere Personen aus anderen Disziplinen (z.B. Wissenschaftshistoriker, Soziologen, Politikwissenschafter) zum Zuge kommen, die Fachleute in diesen ethischen Fragestellungen sind. Vielleicht wäre es sinnvoll, einen Teil der in die Life Sciences investierten Gelder vermehrt für solche Fragen zu verwenden und so der Gesellschaft die dringend benötigte „Packungsbeilage“ für das Produkt Forschungsresultat bereitzustellen.


Die ETH-Life-Kolumnisten äussern ihre persönliche Meinung. Sie muss nicht mit der Haltung der Redaktion übereinstimmen.




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