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Rubrik: Science Life
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Publiziert: 10.04.2002 06:00

Zusammenarbeit der ETH mit russischer Chemiefabrik
Kristalle aus Bogoroditsk

Für den geplanten Teilchen-Detektor CMS am CERN benötigt die ETH Zehntausende von Bleiwolframat-Kristallen. Hergestellt werden sie in der Bogoroditsk Technical Chemical Plant - einer ehemaligen Militäranlage in Russland.

Von Christian Thalmann

Brüssel, Washington, Rom, Mekka, Jerusalem, Hollywood? Auf die Frage nach einer Hauptstadt der Welt gibt es wohl keine einheitliche Meinung. Für die Teilchen- und Kernphysik steht die Antwort jedoch fest: Die Welt dreht sich um Genf. Dort befindet sich nämlich das grösste Forschungszentrum für Teilchenphysik. Das Centre Européen pour la Recherche Nucléaire, kurz CERN, wird von einer europäischen Organisation getragen und beschäftigt rund die Hälfte aller Teilcherphysiker der Welt.

Subatomare Godzillas

Das neuste Bauprojekt am CERN ist ein Teilchenbeschleuniger namens Large Hadron Collider (LHC), der Protonen mit der bisher unerreichten Energie von 7 TeV aufeinander prallen lassen wird. Energie alleine erzeugt aber noch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Diese kommen erst zustande, wenn man bestimmen kann, welche Art von Teilchen bei den Crashes entstehen - und das ist alles andere als einfach. Der CMS Detektor ("Compact Muon Solenoid"), der momentan im CERN für diesen Zweck gebaut wird, ist so gross wie ein vierstöckiges Haus. Sein Inneres ist mit verschiedenen Mess-Systemen ausgefüllt, die in konzentrischen Zylindern um die Kollisionsstelle angeordnet sind. Eines dieser Systeme, das elektromagnetische Kalorimeter, entsteht unter der Leitung der ETH. Es dient dazu, die Energie der Photonen und Elektronen, die bei den hochenergetischen Kollisionen entstehen, so präzise wie möglich zu messen.


TeV

Das eV (Elektronenvolt) ist eine Energieeinheit der Teilchenphysik. Es entspricht der Energie, die ein Elektron erhält, wenn man es mit einer Spannung von einem Volt beschleunigt. Ein TeV (Tera-Elektronenvolt) ist eine Billion mal mehr - vergleichbar mit der kinetischen Energie einer fliegenden Mücke. Konzentriert auf ein einzelnes subatomares Teilchen ergibt dies eine extreme Energiedichte.



Hochenergetische Photonen und Elektronen verhalten sich wie Godzillas: In dicht besiedelten Gebieten hinterlassen sie eine deutliche Spur. Um die Kraft eines Godzillas abzuschätzen, braucht die Polizei aber keinen Streifenwagen loszuschicken: Es reicht, die Telefonanrufe von verärgerten Anwohnern zu zählen. Ähnlich verhält es sich mit einem Hochenergie-Teilchen: Auf seinem Weg durch einen dichten Kristall regt es zahlreiche Atome an, die daraufhin ihre überschüssige Energie in Form von Photonen abstrahlen. Die Elektronik fängt diesen Schauer von freigesetzten Photonen auf und berechnet aus deren Anzahl die Energie des zu messenden Teilchens.

Kristalle
Zehntausende dieser Bleiwolframat-Kristalle sorgen im CMS für eine präzise Erfassung von hochenergetischen Photonen und Elektronen. gross

Nicht alle Kristalle eignen sich für eine solche Messung. Für das elektromagnetische Kalorimeter wurde Bleiwolframat gewählt. Es zeichnet sich durch zwei wichtige Eigenschaften aus. Erstens hat es eine hohe Dichte, was zur Folge hat, dass die hochenergetischen Teilchen auf einer relativ kurzen Strecke vollständig abgebremst werden. Die Kristalle müssen daher nur 23 Zentimeter lang sein, was im Detektorgehäuse viel Platz spart. Weiter ist das Material sehr beständig unter der harten Strahlung energiereicher Teilchen, der es ausgesetzt wird.

Kristalle statt Waffen

Hinter den Bleiwolframat-Kristallen stecken rund zehn Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit, die von Physikern der ETH, des CERN und der Bogoroditsk Technical Chemical Plant (BTCP) in Russland gemeinsam geleistet wurde. Die Zusammenarbeit mit dem russischen Unternehmen, das früher der Waffenproduktion diente, ist dem International Science and Technology Center (ISTC) zu verdanken. Das ISTC ist eine Organisation, die Wissenschaftern aus der Militär-Industrie der ehemaligen Sowjetunion ermöglicht, ihre Fähigkeiten für friedfertige Zwecke einzusetzen. Sie eröffnet den Forschenden den Zugang zur westlichen Bildungs- und Forschungswelt und erschliesst dem Westen gleichzeitig das grosse technische Know-How der ehemaligen UdSSR.

Die Entwicklung der Verfahren für das Züchten, Schneiden und Polieren der Bleiwolframat-Kristalle erreichte im letzten Jahr die notwendigen Qualitätsanforderungen. Zehntausend Kristalle wurden produziert und ans CERN geliefert, worauf die ETH gemeinsam mit dem CERN einen Vertrag zur Produktion von weiteren 26'000 Kristallen mit der BTCP abschloss. Im Februar dieses Jahres besuchte eine Gruppe der ETH unter Professorin Felicitas Pauss die russische Fabrik, um Modifikationen an den Kristallöfen zu begutachten und zusätzliche Produktionsaufträge in die Wege zu leiten.


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Bogoroditsk
Im Herzen der ehemaligen Militäranlage von Bogoroditsk: ETH-Professorin Felicitas Pauss mit zwei russischen Kolleginnen. gross

"Die internationale Zusammenarbeit ist ein faszinierender Aspekt dieses Projektes", meint Frau Pauss. "Wissenschafter aus aller Welt kommen hier zusammen und tragen gemeinsam zum Erfolg des Projektes bei. Ich habe noch nie erlebt, dass es wegen politischen oder ideologischen Differenzen Probleme gegeben hätte."

Jenseits des Standardmodells

Doch welche neuen Erkenntnisse erhofft man sich vom LHC? Die heutigen Teilchenbeschleuniger bestätigen das Standardmodell der Teilchenphysik hervorragend. Trotzdem bleiben fundamentale Fragen unbeantwortet. Es existiert eine Vielzahl von Theorien, die auf dem Standardmodell aufbauen und Ansätze zur Lösung der offenen Fragen anbieten - doch vorläufig sind es nur Theorien. Es ist zwar unumstritten, dass eine Erweiterung des Standardmodells nötig ist, jedoch sind noch zu wenig experimentelle Hinweise vorhanden, als dass man erkennen könnte, welche der weiterführenden Theorien erfolgreich sein wird. Der LHC wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach Antworten auf diese Fragen liefern können. Im TeV-Energiebereich erhoffen sich die Physiker insbesondere die Beobachtung von Higgs-Boson-Ereignissen, von Symmetriebrechungsphänomenen und von Teilchen der Supersymmetrie-Familie.

Magnet CERN
Diese metallenen Ungetüme dienen dem Nachweis von Myonen und bilden die äusserste Schicht des CMS. Schon jetzt lassen sie die gigantischen Dimensionen des fertigen Detektors erahnen. gross

Gerade im Hinblick auf das Higgs-Boson könnte das elektromagnetische Kalorimeter im CMS eine Schlüsselrolle spielen. Die Masse dieses Teilchens, von der unter anderem seine Zerfallseigenschaften abhängen, ist noch unbekannt. "In einem früheren Projekt am CERN sind wir auf mögliche Anzeichen für ein Higgs-Teilchen bei 115 GeV gestossen. Leider war die Zahl der beobachteten Ereignisse zu gering, um das Signal eindeutig zu identifizieren", berichtet Frau Pauss. Mit dieser Masse würde das Higgs in zwei Photonen zerfallen. Das Kristall-Kalorimeter vermag solche Photonen mit höchster Präzision zu registrieren und könnte somit die Frage nach der Higgs-Masse beantworten.

Nebst den wissenschaftlichen Zielen haben die am CERN entwickelten Technologien auch Anwendungen im industriellen und medizinischen Bereich. So werden zum Beispiel ähnliche Kristalle auch für die Positron-Emissions-Tomographie (PET) verwendet, während Teilchenbeschleuniger in der Krebstherapie zum Einsatz kommen. Fest steht jedoch, dass die oben erwähnten Experimente der Teilchenphysik der Zukunft den Weg weisen werden und möglicherweise gar einen bedeutenden Schritt in Richtung des heiligen Grals der Teilchenphysik, der "Theory of Everything", bedeuten.


Projekt der Superlative

Der CMS Detektor enthält einen Magneten, der schwerer ist als der Eiffelturm. Das Vakuum in den 27 Kilometer langen Beschleunigungsringen ist reiner als jenes im Weltraum zwischen Erde und Mond. Im LHC werden in jeder Sekunde 800 Millionen Proton-Proton Kollisionen stattfinden. Der dabei von den Detektoren abgelesene Datenstrom entspricht der Leistung des heutigen Telekommunikations-Netzwerks von ganz Europa. Solch ein Bauprojekt ist auch nicht billig. Das Budget für den LHC und seine Detektoren umfasst rund 3.7 Milliarden Schweizer Franken. Am CERN arbeiten 6500 Wissenschafter aus 500 Universitäten und über 80 Ländern.






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