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Rubrik: Science Life
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Publiziert: 15.12.2005 06:00

Landschaftsschutz
Zerschneidung erstmals vermessen

Das Verkehrsnetz wird dichter, die Maschen in der Landschaft werden immer enger. Mit fatalen Folgen für Tierpopulationen, Landschaftsbild und Erholungsqualität . In einem laufenden Projekt wird jetzt auch die Schweiz auf deren Maschenweite vermessen.

Peter Rüegg

Das deutsche Autobahnnetz wächst und wächst. Allein im Jahr 2005 sind wieder 190 Kilometer dazugekommen. Ende Jahr werden insgesamt 12'200 Autobahnkilometer deutsche Lande durchziehen. Was für den Autoclub ADAC Grund zur Freude ist, bringt einen Forscher wie Jochen Jaeger höchstens noch mehr zum Grübeln. Darüber nämlich, wie sich diese weitere Zerschneidung von Lebensräumen auf die Bestände wildlebender Tiere auswirkt. Jaeger arbeitet derzeit an der Professur für Natur- und Landschaftsschutz der ETH an einem Projekt, das Klarheit über die Landschaftszerschneidung in der Schweiz bringen soll.

Den Grundstock für seine Arbeit hat der Umweltwissenschaftler in seiner Dissertation an der ETH Zürich gelegt. Er hat im Rahmen seiner Forschungen ein neues Mass entwickelt, mit dem er den Grad der Landschaftszerschneidung durch das Strassen- und Schienennetz in eine Zahl packen kann: die effektive Maschenweite. Zu Beginn seiner Forschungsarbeiten habe er festgestellt, dass die Literatur zwar eine Vielzahl verschiedener Messmethoden für die Landschaftsstruktur enthalte, keine sei aber geeignet gewesen, die Lebensraumzerschneidung verlässlich und mit einer einfachen Zahl anzugeben.

Grosse Maschen werden selten

Die Grundidee der effektiven Maschenweite ist einfach. Sie drückt die Wahrscheinlichkeit aus, dass zwei Tiere, die sich an zufällig gewählten Orten im selben Gebiet aufhalten, nicht durch Strassen oder Schienen getrennt sind. Je stärker die Landschaft zerschnitten ist, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Tiere in der gleichen Fläche lokalisiert sind . Diese Wahrscheinlichkeit wird mit der Gesamtgrösse des betrachteten Gebiets multipliziert. Die daraus resultierende Zahl ist die effektive Maschengrösse in Quadratkilometern. Je grösser deren Wert ist, desto weniger stark ist eine Landschaft zerschnitten. Ist der Wert klein, so zerstückeln viele Verkehrswege die freie Landschaft in viele kleine Gebiete. Ist er null, ist die Fläche völlig überbaut.

Getestet und angewandt hat Jaeger seine Methode vor allem in Deutschland. Er hat den Grad der Zerschneidung unter anderem für Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit Heide Esswein und Hans-Georg Schwarz-von Raumer von der Universität Stuttgart berechnet. Die Resultate waren bedenklich: Zwischen 1930 und 1998 nahm dort die effektive Maschenweite um mehr als 40 Prozent ab, von knapp 23 auf 13 Quadratkilometer. Besonders einschneidend war der Bau von Gemeindestrassen zwischen 1960 und 1985, denn in dieser Zeit sackte die effektive Maschenweite regelrecht ab. Der Trend hin zu immer kleineren Einheiten flachte danach zwar ein wenig ab, ist aber noch immer deutlich negativ.

In Deutschland gilt die Landschaftszerschneidung, gemessen mit der effektiven Maschenweite in Kombination mit dem Flächenanteil der unzerschnittenen verkehrsarmen Räume von mehr als 100 Quadratkilometer seit 2004 als einer von 24 umweltbezogenen Kernindikatoren für nachhaltige Entwicklung. Weitere deutsche Bundesländer haben den Wert der effektiven Maschenweite ebenfalls erhoben, darunter Bayern, Hessen und Sachsen. Seit November 2003 verwendet die Europäische Umweltagentur den Wert als Kennzahl für den Umweltzustand. „Die effektive Maschenweite ist ein wichtiger Indikator für den Zustand der Landschaft und der Lebensräume“, sagt Jaeger. „Er zeigt den zunehmenden Druck an, unter dem sie stehen.“

Längste Zeitreihe der Welt

Interesse an den Forschungsarbeiten des Strassenökologen hat nun auch die Schweiz. Im Auftrag des Bundesamtes für Strassen (ASTRA) und des Bundesamtes für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL) untersucht Jaeger in Zusammenarbeit mit René Bertiller und Christian Schwick die Landschaftszerschneidung der Schweiz von 1900 bis 2002. Damit sollen zum ersten Mal landesweite Werte für die effektive Maschenweite erhoben und Trends aufgedeckt werden. Daraus können auch Rückschlüsse für die Verkehrs- und Raumplanung gezogen werden.

Mit diesem Projekt entsteht die längste Zeitreihe zum Zerschneidungsgrad eines Gebiets und ist weltweit die erste historische Analyse für ein ganzes Land. Die Daten sollen als Umweltindikator im Monitoring der nachhaltigen Entwicklung der Schweiz eingesetzt werden. Mit diesem einheitlichen Mass lässt sich zudem der Zerschneidungsgrad der Schweiz mit dem von anderen europäischen Ländern vergleichen.

Der Kanton Aargau ist der erste hierzulande, der den Zerschneidungsgrad untersucht hat. Die Werte sind noch schlechter als im nördlich angrenzenden Bundesland. Über den ganzen Kanton betrachtet liegt die effektive Maschenweite bei 10 km2. In den Flusstälern des Aargaus beträgt sie nur noch 1,8 Quadratkilometer – weit unter dem Durchschnitt selbst dichtest besiedelter Gebiete Baden-Württembergs.

Tierpopulationen gehen zurück

Die Relevanz der effektiven Maschenweite geht indes weit über nackte Zahlen hinaus. Für die Tier- und Pflanzenwelt hat die Zerstückelung der Lebensräume gravierende Folgen und gilt heute als eine der wichtigsten Ursachen für die Gefährdung von Arten in Mitteleuropa. Denn in immer kleineren werdenden Landschaftsteilen sind ganze Tierpopulationen vom Rückgang und Verschwinden bedroht. In kleinen Lebensraumfragmenten erlöschen sie rascher als in grossen zusammenhängenden.


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Zäune halten Tiere von Schnellstrassen und Autobahnen fern. Doch damit wird der lebenswichtige Austausch der Populationen unterbunden. (Bild: J. Jaeger) gross

Wenn zum Beispiel eine Autobahn eine Grasfrosch-Population teilt, dann entstehen zwei voneinander isolierte Bestände, die sich nicht mehr mischen. Zwischen den Tieren findet kein genetischer Austausch mehr statt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich verwandte Individuen miteinander paaren, steigt, es kommt zu Inzucht. Das schwächt die Fitness der Frösche und ihre Aussterbe-Wahrscheinlichkeit steigt. Ebenso können zufällig auftretende Populationsschwankungen oder bestimmte Umwelteinflüsse wie Krankheiten Populationen leichter zum Verschwinden bringen.

Vom direkten Strassentod zum Modell

Zudem fordern Strassen von vielen Tierbeständen einen hohen Blutzoll. Studien zeigen, dass es für Frösche kein Durchkommen mehr gibt, wenn pro Stunde mehr als 26 Fahrzeuge eine Strecke befahren. Strassen beeinträchtigen aber den Lebensraum weit über das Trassee hinaus. Viele Tiere meiden Bewegung, Lärm, Gestank und Licht. Und wagen sich nicht auf die Fahrbahn hinaus oder meiden bereits die Umgebung der Strasse .

Aus solchen Erkenntnissen hat Jochen Jaeger ein Computermodell zur Populationsdynamik abgeleitet. In Abhängigkeit von den Faktoren Strassenvermeidung und Strassensterblichkeit kann er die Überlebenswahrscheinlichkeit einer Tierpopulation über viele Generationen berechnen. Wenn Tiere die Strasse kaum meiden und die Sterberate auf der Strasse sehr hoch ist, dann überleben die Modell-Populationen ab einer bestimmten Strassendichte auf lange Sicht nicht. Oft sind – anscheinend paradoxerweise – gerade diejenigen Tierarten bedroht, die nur sehr selten als Strassenopfer zu sehen sind. Der Grund ist, dass die Verkehrsverluste die Populationen bereits so stark geschwächt haben, dass die Tiere auch auf der Strasse kaum noch anzutreffen sind, jeder einzelne weitere Verlust aber schwerwiegend ist.

Sind Wildzäune sinnvoll?

Das Modell klärt auch die Frage, unter welchen Umständen Wildzäune sinnvoll sind . „Je stärker die untersuchte Population zurückgeht und je mehr Verkehrsmortalität zum Bestandsrückgang beiträgt, desto sinnvoller ist ein Zaun", sagt der Forscher. In diesem Fall erhöhe ein Zaun die Überlebenswahrscheinlichkeit. Nötig werde dabei aber in der Regel auch der Bau von Unter- oder Überführungen für Tiere.

Ein weiteres Problem ist, das sich kaum zwei Tierarten gleich verhalten. Was für einen Dachs richtig sein mag, kann für die Erdkröte völlig falsch sein. Beobachtungen über das Verhalten von verschiedenen Tieren an und auf Strassen sind allerdings bisher nur wenige vorhanden.

Trend muss dringend umkehren

Für Jaeger ist klar, dass das Problem der Landschaftszerschneidung in der Schweiz und in Mitteleuropa bisher viel zu wenig beachtet wurde. In den USA und in Kanada etabliert sich „Road Ecology“ derzeit als ein wichtiges neues Fachgebiet der Naturschutz-Biologie. Im deutschsprachigen Raum ist Jaeger einer der wenigen, der sich damit auseinandersetzt.

Vielleicht auch deshalb, weil Strassenökologie politisch heikel ist. "Eine Trendumkehr beim Strassenbau und der Zunahme des Verkehrs wäre erforderlich, ist aber derzeit nicht in Sicht", betont Jaeger, der gerade die politische Relevanz seiner Forschung schätzt. Umso dringender müsse man sich über sämtliche Folgen der Verkehrszunahme klar werden, gerade auch der langfristigen und der Summenwirkungen. „Wir wollen die Entwicklung in eine Richtung lenken, die unter Berücksichtigung aller Folgen wünschenswert ist und damit helfen, Fehlentwicklungen zu vermeiden. Das ist die Motivation, die ich für meine Arbeit habe“.


Literaturhinweise:
GAIA-Themenschwerpunktheft über "Landschaftszerschneidung", Vol. 14, Heft 2, 2005www.ingentaconnect.com/content/oekom/gaia/2005/00000014/00000002



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