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Rubrik: Science Life
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Publiziert: 22.05.2006 11:00

Tierversuche: Positionspapier von nationalen Kommissionen in der Kritik
„Missverständnisse vorprogrammiert“

,Die Eidgenössische Kommission für Tierversuche (EKTV) und die Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) haben eine ethische Bewertung von Tierversuchen vorgenommen, die heute Montag in Bern vorgestellt wird. Sie stützen sich dabei exemplarisch auf einen Versuch mit Krallenäffchen, der am Laboratorium für Verhaltensneurobiologie der ETH durchgeführt und im Februar 2006 beendet worden war. Der Versuch war in Politik und Medien bereits diskutiert worden. Hans Sigg, Tierschutzbeauftragter von ETH und Universität Zürich, sieht grundlegende Mängel in der Bewertung und weist sie als unsachlich zurück.

Interview: Norbert Staub

Herr Sigg, welches ist für Sie die Quintessenz des Berichts der beiden Eidgenössischen Kommissionen zu Primatenversuchen?

Hans Sigg: Sie machen aufgrund eines einzigen, exemplarisch beurteilten Tierversuchs eine ethische Bewertung und eine Güterabwägung. Daraus leiten sie Empfehlungen für Versuche mit Primaten ab. Diese Empfehlungen sind zum Teil konkret und sehr strikt, wie das geforderte Verbot von Versuchen an grossen Menschenaffen. Andere, etwa die Forderung nach einer interdisziplinären Begutachtung, nach gut vernetzter Forschung oder der Aufruf zu grosser Zurückhaltung bei der Bewilligungspraxis, wiederholen bereits bestehende Usanzen. – Aber da im vorliegenden Papier der fragliche Versuch falsch dargestellt wurde und den kritisierten Forschern keine Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt wurde, fehlt allen diesen Empfehlungen eine solide Grundlage. Die Kommissionen haben zudem keine einheitliche ethische Position zu den Primaten-Versuchen gefunden und widersprechen sich in dem Papier zum Teil selbst. Missverständnisse sind also vorprogrammiert, und die ganze Bewertung muss in Zweifel gezogen werden.

Können Sie das erläutern?

Es wird zum Beispiel die Frage aufgeworfen, ob alle Primaten zur moralischen Gemeinschaft mit den Menschen zu zählen seien. Eine Minderheit meinte: Ja. Konsequenz daraus wäre ein direktes Verbot der Versuche. Die Mehrheitsposition war, dass diese Frage nicht schlüssig geklärt werden könne. Deshalb müsse in Umkehr der Beweislast bewiesen werden, dass diese moralische Verbindung zwischen Primaten und Menschen nicht bestehe. – Ein Ding der Unmöglichkeit, weil der Begriff "moralische Gemeinschaft" gar nicht definiert ist. Damit läuft auch diese Argumentation auf ein prinzipielles Verbot der Primatenforschung hinaus. Im Widerspruch dazu erklären die Kommissionen eine Güterabwägung zwischen menschlichen Interessen und jenen der Tiere dennoch für zulässig. Für mich zeigt das, dass die Kommissionsmitglieder ihre eigene Argumentation mehrheitlich nicht als stichhaltig betrachten.

Sie selbst sind dem Wohl der Tiere verpflichtet. Sie haben den Krallenäffchen-Versuch für vertretbar erklärt. Sind Sie immer noch dieser Meinung?

Ja, auf jeden Fall. Was die Krallenäffchen im Rahmen der Versuche an Trennungsstress aushalten mussten, kommt bei den Tieren auch im normalen Leben vor, natürlich in weit geringerem Ausmass. Zudem war der Versuch in den Kontext einer interdisziplinären, wissenschaftlich breit abgestützten Depressionsforschung eingebettet. Es ging darum, möglichen Bedingungen auf die Spur zu kommen, welche die spätere Disposition, depressiv zu werden, erhöhen. Beim Menschen können Studien dazu retrospektiv durchgeführt werden. Aber die Erinnerung verfälscht den Befund erheblich, womit ein solcher Ansatz nur beschränkte Aussagekraft hat. Bei Krallenäffchen ist die Modellübertragung auf den Menschen gegeben. Keinesfalls ging es beim Versuch darum, depressive Äffchen zu produzieren, wie es der Bericht der Kommissionen andeutet. Nicht ohne Grund haben ja die kantonale Bewilligungsbehörde und die beratende Kommission seinerzeit entschieden, dass der Erkenntnisgewinn die Belastung der Tiere rechtfertigt.

Wie sind die beiden Kommissionen bei der Einschätzung des Äffchen-Versuchs vorgegangen?

Das ist ein sehr problematischer Punkt bei diesem Papier. Die Kommissionen haben die fachliche Bewertung gänzlich ohne Einbezug eines Primatologen vorgenommen. Zudem hat kein Kommissions-Mitglied die als sehr belastend dargestellte Separation der Jungtiere selbst gesehen. Eine kleine Arbeitsgruppe hat Versuchsleiter Christopher Pryce zwar angehört, ihm oder seinem Institutsleiter jedoch keine Gelegenheit gegeben zu prüfen, ob die Wahrnehmung der Kommission den Fakten entspricht. In der Tat finden die Forschenden jetzt, der Versuch werde in entscheidenden Punkten falsch dargestellt. Wichtige Aussagen wurden weggelassen. Die Schlüsse der beiden Kommissionen, die auf einer derart mangelhaften Darstellung durch die Arbeitsgruppe beruhen, müssen in Frage gestellt werden.

Welchen Rahmen setzt denn das Tierschutzgesetz für die Beurteilung der Belastung bei Tierversuchen?

Es schreibt vor, dass die Anpassungsfähigkeit eines Tiers nicht überfordert werden darf. Ich verstehe das so: Wenn keine bleibenden Schäden auftreten, ist diese Forderung erfüllt. Im vorliegenden Fall kann von bleibenden Schäden nicht die Rede sein, da sich die erzeugten Veränderungen im Rahmen des artgemässen Spektrums bewegen. Die Kommissionen beurteilen das allerdings völlig anders, indem sie eine theoretische Verletzung der Würde des Tiers als Belastung bezeichnen. In diesem Zusammenhang den Würdebegriff ins Spiel zu bringen, ist meines Erachtens sehr problematisch.


Setzt grosse Fragezeichen hinter die Tierversuchsbewertung der beiden Eidgenössischen Kommissionen: Hans Sigg, Tierschutzbeauftrager von Universität und ETH Zürich (Bild:nst). gross

Warum?

Es ist nicht nachvollziehbar, wieso ein Äffchen im Versuch mehr leiden sollte, wenn die Philosophen eine Würdeverletzung attestieren. Das öffnet der Beliebigkeit Tür und Tor. In der Schweiz hat sich die Praxis bewährt, die Belastung vor einem Versuch anhand einer Sammlung von Modellversuchen einzuschätzen. Mittels Messungen und Beobachtungen während und nach einem Versuch wird diese Beurteilung laufend ergänzt und korrigiert.

Ich möchte noch einmal die Empfehlungen der Kommissionen ansprechen. Was stört Sie daran?

Die Empfehlungen erwecken den Eindruck, die bestehenden Regelungen seien ungenügend. Das ist aber nicht der Fall. Wenn zum Beispiel gefordert wird, Versuche an grossen Menschenaffen in der Schweiz zu verbieten, gleicht das der Jagd nach einem Phantom. Denn es werden derzeit keine solchen Versuche durchgeführt und in absehbarer Zeit sind auch keine geplant. Aber nehmen wir an, ein neues Virus würde sich in einem Wildbestand von Menschenaffen so stark verbreiten, dass eine Gefährdung der Population zu befürchten wäre, und es bestände die Möglichkeit mit einer Impfung dagegen anzukämpfen. Dann würde ein solches Verbot die nötigen Studien (auch die harmlosesten) und eine Lösung des Problems von vornherein verhindern. Befremdend dann die Behauptung, der diskutierte Versuch beabsichtige, mit temporärer Trennung eine Verfeinerung der absoluten Isolation zu erreichen. Davon kann keine Rede sein, zumal es sich um zwei verschiedene methodische Ansätze handelt. - Mir scheint, dass die Arbeitsgruppe die Versuchsanordnung oder das Versuchsziel in diesem Experiment nicht richtig verstanden hat. Weiter wird verlangt, Versuche interdisziplinär zu begutachten und zurückhaltend zu bewilligen sowie bei der Forschungsfinanzierung die unterschiedlichen Faktoren der Depression zu berücksichtigen. Dies sind alles Selbstverständlichkeiten, die längst umgesetzt sind.

Wie hätten die Kommissionen Ihrer Meinung nach vorgehen müssen?

Unterm Strich wäre es für deren Arbeit wichtig und nötig gewesen, sich genaue Kenntnisse über den exemplarisch behandelten Versuch zu verschaffen. Um einen Sachverhalt objektiv darzustellen, ist es unabdingbar, die eigene Wahrnehmung den Betroffen vorzulegen und diesen die Möglichkeit zu geben, eine Stellungnahme abzugeben. Weil die Kommissionen kein korrektes Vorgehen bei der Erarbeitung der Grundlagen gewählt haben, muss die ganze Bewertung als unsachlich zurückgewiesen werden.


Kontrollieren, vermitteln, intervenieren

Der Tierschutzbeaufragte von Uni und ETH Zürich berät Forschende bei der Versuchsplanung und Gesuchstellung und kontrolliert, ob die vom Gesetz gegebenen Normen und die von der Bewilligungsbehörde verfügten Auflagen bei Tierversuchen eingehalten werden. Gegebenenfalls schlage er auch bei bereits bewilligten Versuchen weitere Verbesserungen in der Durchführung vor, erklärt Stelleninhaber Hans Sigg. „Im Konfliktfall versuche ich mittels einer Bestandsaufnahme und Gesprächen mit den betreffenden Forschenden eine Lösung zu finden. Das sollte in der Regel für eine Änderung der Praxis reichen.“ Und falls nicht, bestehe die Möglichkeit, via Departements- und schliesslich via Schul-, respektive Universitätsleitung zu intervenieren. In der Forschung an der ETH und an der Universität Zürich werden über 70'000 Versuchstiere eingesetzt. Davon entfällt laut Siggs Schätzung etwa ein Drittel auf die ETH. In den letzten Jahren hätten die Forschungsbegehren, die unter anderem mit gentechnisch veränderten Mäusen arbeiten wollen, sehr stark zugenommen. An der ETH laufen derzeit drei Versuche mit Primaten.




Literaturhinweise:
Vgl. zum selben Thema die "ETH Life"-Berichte "Kantonspolitik zu Tierversuchen" (11.11.2005: www.ethlife.ethz.ch/articles/news/Expverhaltneur.html) und "Tierversuch beendet" (22.2.2006: www.ethlife.ethz.ch/articles/news/marmosfin.html)



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