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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 07.04.2004 06:00

"Wissenschaft kontrovers" - eine Selbstbefragung über Geld, Kultur und Qualität
Uni - eine Ich-Gesellschaft?

Etabliert die Universität eine Ich-Gesellschaft? Forscht man abgehoben von der Realität? Ist eine kurze Verweildauer von Wissenschaftlern an einer Uni sinnvoll? Die Meinungen zu Themen wie Konkurrenzkampf, Karrierechancen und Perspektiven konnten kontroverser und engagierter als vergangenen Montag zum Auftakt der zweiten Runde von "Wissenschaft kontrovers" nicht sein.

Von Regina Schwendener

Wenn jemand zum ersten Mal an eine "Kontrovers"-Veranstaltung kommt, stossen er oder sie scheinbar auf einen Kreis von Insidern. Man kennt sich, spricht sich auch in den Diskussionen und beim Apéro häufig mit Du an. Der Kreis derjenigen, die sich am Montag im Audimax zur neuen Runde von "Wissenschaft kontrovers" (1) getroffen hat, war kleiner als auch schon. Lebhafter und kontroverser als alle Male davor war dagegen die Diskussion.

Keine neue Frage

Chemie-Nobelpreisträger Richard Ernst zeichnete ironisierend das Bild von Forschenden - selbstlos, abgehoben von der Realität in "geschützter" Arbeitsstätte, als "Raubritter in der Ich-Gesellschaft" im Kampf um Drittmittel. Fehle es nicht an einer Weichenstellung, einem Aufbruch, weg von dieser Ich-Gesellschaft mit den heute gängigen Strukturen, Kulturen und Subkulturen?

"Keine neue Frage", fand Hans-Peter Hertig, Direktor des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und fragte provozierend: "Gibt es mehr oder weniger Egoisten an der ETH als in St. Gallen oder beim Bund?". Er rief nach offenen Systemen, mehr Frauen- und Nachwuchsförderung, überhaupt mehr Transparenz. Hertig legte den Finger auf Schwachstellen in der aktuellen Forschungslandschaft, die zu einer Ich-Gesellschaft führen müssten: An vorderster Front stehe der Kampf um das Geld für die Forschung. "Es kann nicht sein, dass aus diesem Grunde 90 Prozent der Forschungszeit dafür verwandt werde, Anträge zu formulieren", wetterte er. Er bemängelte weiter die fehlende Sicherung der Pluralität - Neues setze sich schwer durch - fehlende angemessene Karrierechancen und mangelnde Angebote auf Selbstreflexion. Diese Punkte riefen ausnahmslos nach Reformen.

Beim Apéro wurden Kontakte gepflegt und die Diskussion wurde weitergeführt (zum Beispiel mit Richard Ernst, 2. von rechts). gross

Eine Ellenbogen-Gesellschaft?

Peter Keller, Architekt und Lehrbeauftragter am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT) der ETH Zürich zitierte geläufige Statements: Sich auf nationaler Ebene zu engagieren bedeute, sinkende Halbwertzeit für das Wissen und eine Überalterung der Studierenden. Die Ich-Gesellschaft berge hinsichtlich Lehre und Forschung Vorteile. Sie trage zur Steigerung von Qualität bei, die Studierenden haben bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und die Universitäten würden an Prestige gewinnen. – "Bietet diese Entwicklung hin zu Egokult und eine Ellenbogen-Gesellschaft nicht Anlass zur Sorge?", fragte Keller. Die kurzen "Durchlaufzeiten" der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an den Unis würden zunehmend die Wahrnehmung interdisziplinärer Netzwerke verhindern. Potenziale würden nicht mehr optimal ausgeschöpft und die Indentifikation mit der Hochschule und deren akademischem und gesellschaftlichem Umfeld könne sich nicht entwickeln.


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Gerd Folkers (links) führte souverän wie humorvoll durch den Abend und beteilgte sich angeregt an den Diskussionen. gross

Kann man nur durch Egoismus und eine Ausrichtung auf das Opportune im akademischen Umfeld bestehen? Oder sind am Ende diejenigen erfolgreich, welche ihren eigenen Weg gehen? Sabine Werner, ETH-Professorin für Zellbiologie, gab als engagierte und begeisterte Wissenschaftlerin zum Thema Karriere Auskunft: Der Einsatz für den Beruf liege bei 150 Prozent. Man habe für lange Zeit keine sichere Anstellung und man müsse bereit sein, Konkurrenzdruck zu ertragen. "Die Konkurrenz wird grösser und es gibt immer weniger Geld. Es wird immer schwieriger, an die Spitze zu gelangen." Werner skizzierte die negative Seite des Drucks: "Es gibt eine Anhäufung von Fällen, die an die Grenzen wissenschaftlichen Fehlverhaltens stossen. Wenn Geld und Zeit immer knapper werden, dann werden auch die Versuchsreihen kürzer."

Wo Geld, da Forschung?

In der Diskussion – von Collegiumsleiter Gerd Folkers souverän und "spritzig" moderiert – war sich die "Kontrovers-Community" nach dem Zwischenruf der ehemaligen Kollegiatin Marianne Sommer einig, dass es den Mut zur Eigenverantwortung braucht, um Veränderungen zu bewirken und den Blick über den Gartenzaun zu wagen. Jedoch könne eine Zusammenarbeit nicht erzwungen werden. Und dass die Quantität – sprich Anzahl von Publikationen und der Impact-Factor – für das Image eines Wissenschaftlers, einer Wissenschaftlerin, mehr zählt als die Qualität der Arbeit, erschütterte einige der Anwesenden. Konkret folgte die Frage: "Wer fängt damit an, die Anzahl der Publikationen als Qualitätskriterien abzuschaffen?"...

"Wenn ich Geld haben will, muss ich mich nach der Geldquelle richten?" – Diese Argumentation war stark umstritten. Es dürfe doch nicht sein, dass kompetente Fachleute aus Europa vertrieben würden, weil den jungen Leuten hier keine Chance gegeben werde, wurde die gängige Anstellungs- und Berufungsstruktur kritisiert. Mobilität und Flexibilität waren Stichworte, die nicht überall auf fruchtbaren Boden fielen und auch nicht als Notwendigkeit für schweizerische Unis angesehen wurden.

Eine Herde von Schafen?

Ist die gegenwärtige Entwicklung ein Strukturproblem? - Strukturen seien nicht relevant, war die These von Richard Ernst. Auf die Einstellung käme es an. "Die Akademiker kommen einem vor wie eine Schafherde ohne geniale Köpfe. Man muss dort ausbrechen!", bemerkte Richard Ernst launisch und bekam prompt die Antwort: "Nicht jedes Schaf, das dort ausbricht, ist ein Genie!"

Als Hauptprobleme, welche die Entwicklung zur Ich-Gesellschaft fördern würden, orteten die Anwesenden die fehlende Unterstützung durch die Politik und die immer noch schwache Vertrauensbasis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Die einen meinten, es werde daran gearbeitet, die andern waren gegenteiliger Meinung. Einig war man sich dann wieder, dass die Beurteilung von Führungs- und Sozialkompetenzen bereits bei der Berufung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine Rolle spielen müssten.

In der Diskussion fand man immer wieder einen Konsens, der sich jedoch schnell wieder in Luft auflöste. Zurück blieb der Eindruck: Die Meinungen sind und bleiben kontrovers.


Fussnoten:
(1) "Wissenschaft kontrovers" : www.kontrovers.ethz.ch/



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