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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 26.11.2002 06:00

Round-Table-Gespräch von Bulletin und ETH Life
Hat die Atomenergie eine Zukunft?

Zwei ETH-Professoren, der Präsident der Nagra und ein Greenpeace-Aktivist diskutieren über Lösungsansätze im Energie-Dilemma. Für den Greenpeace-Vertreter ist klar: ein Ausstieg ist das einzig Richtige. Andere sehen in der Kernenergie das kleinere Übel, um die Klimakatastrophe verhindern zu können.

Richard Brogle und Christoph Meier

Nach dem Nein des Nidwaldner Stimmvolkes zum Bau des Sondierstollens am Wellenberg ist die Frage eines Endlagers für Atommüll in der Schweiz wieder offen. Ist es zu verantworten, eine Technologie zu gebrauchen ohne die Entsorgungsfrage geklärt zu haben?

Hans Issler:

Mit dem Wellenberg hatten wir einen Standort ausgewählt, der aus technisch-geologischer Sicht Erfolg versprechend war. Das Projekt ist aus politischen Gründen gescheitert. Damit ist ein zehnjähriges Untersuchungsprogramm gestoppt worden. Ich glaube, dass dies keinen unmittelbaren Einfluss auf die Kernenergienutzung hat, weil wir die Fragen der Entsorgung und der Nutzung trennen müssen. Um so mehr, da radioaktive Abfälle auch im Bereich der medizinischen Anwendung und der Industrie anfallen und es auch im Ausland Beispiele gibt, in denen geologische Lager für radioaktive Abfälle realisiert worden sind.

Sieht Greenpeace die Entsorgung auch als politisches Vollzugsproblem?

Leo Scherer:

Wir sehen das ganz anders. Nutzung und Entsorgung sind untrennbar. Wir lassen uns nicht erpressen, "Ihr seid alle im gleichen Masse mitverantwortlich, ihr habt alle eine Kilowattstunde Atomstrom gebraucht und ihr müsst nun auch einen Teil des radioaktiven Abfalles in eure Verantwortung nehmen." So geht es nicht. Für uns ist wichtig, dass man sich zuerst für die Abfallvermeidung entscheidet - ab sofort beziehungsweise sobald als möglich. Solange dies nicht geschehen ist, gibt es politische Hindernisse. Dies ist keine Sorglosigkeit, sondern man will nicht Hand bieten zu einer "Problemlösung", solange die Ursache des Problems nicht angegangen wird. Wellenberg ist atompolitisch eine grosse Niederlage. Dies muss und wird Konsequenzen haben für die weitere Atompolitik in der Schweiz. Es ist das Signal, dass wohl kaum eine Landesgegend in der Schweiz oder auch das Ausland diese Abfälle einfach so entgegenzunehmen bereit ist.

Wie beurteilen Sie die Revision des Kernenergiegesetzes?

Scherer:

Im jetzigen Ausarbeitungsstadium ist ausgerechnet für Tiefenlager der demokratische, nationale Entscheid NICHT vorgesehen. Es gibt nicht einmal ein Referendumsrecht, geschweige denn ein obligatorisches Referendum. Ich halte es für das Beste, wenn ein Projekt so gut ausgelegt und kommuniziert werden muss, dass es eine Volksabstimmung überstehen kann. Aber solange wesentliche Bestrebungen der schweizerischen Atomwirtschaft dahin gehen, irgendwelche dubiosen Kanäle Richtung Russland zu öffnen, solange besteht ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Issler:

Gegen ein demokratisches Verfahren über ein geologisches Tiefenlager habe ich nichts einzuwenden.

Nicht gleicher Meinung: Greenpeace-Aktivist Leo Scherer und Wolfgang Kröger, ETH-Professor und Leiter des Forschungsbereichs "Nukleare Energie, Sicherheit" am PSI. gross

Wie kann man die Akzeptanz der Atomenergie bei der Bevölkerung erhöhen?

Wolfgang Kröger:

Studien zeigen, dass man keine Chance hat, Akzeptanz für eine Technologie zu bekommen, wenn die Menschen von dem Nutzen für sie selbst nicht überzeugt sind. Wenn die Bevölkerung - aus welchem Grund auch immer - Strom nicht zu brauchen glaubt und insbesondere keinen Atomstrom will, dann dürfen wir nicht hoffen, sie umstimmen zu können, indem wir zeigen, dass die Risiken sehr klein sind. Sie wird sie nicht akzeptieren.

Eberhard Jochem:

Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. Wir haben andere Systeme in unserer Gesellschaft, die hochgefährlich sind. Betrachten wir nur den Strassenverkehr. Im Grunde genommen sind Autos ja auch Waffen. Ein Auto aus tausend produziert einen tödlichen Unfall pro Jahr. Der Nutzen, den die Gesellschaft in dieser Mobilität sieht - ob ein Brainwash dahinter steht sei dahingestellt - wird so hoch eingeschätzt, dass man beispielsweise in den USA bereit ist, pro Jahr 40'000 Tote zu akzeptieren. Und in Europa sieht es nicht viel anders aus. Auch erneuerbare Energien oder Gaskraftwerke bergen erhebliche Risiken. Neu für Gesellschaft ist bei der Kernenergie die Ungewohntheit des maximal möglichen Schadens und die langfristig möglichen Auswirkungen. Dafür haben die Leute noch kein Gefühl. Sie haben ein Gefühl für Verkehrsunfälle: ein Mensch oder auch zehn Menschen sind einfach tot.


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ETH-Professor Jochem (l.) und Hans Issler, Präsident der Nagra gross

Wie sieht man die Entsorgungsfrage in der Forschung?

Kröger:

Aus der Forschungssicht heraus muss ich sagen, dass die Endlagerung von radioaktivem Abfall als technisch machbar und vertretbar angesehen wird. Im übrigen hat in vielen Ländern die Kernenergie als Einstiegstechnologie gedient, um das Bewusstsein zu schärfen, dass mit Hochtechnologien oft ein Risikopotential einhergeht. Aversionen waren und sind die Folge. Die Problematik besteht dementsprechend nicht nur in der Kernenergie. Die Endlagerung ist ein Risiko, aber signifikant nur, wenn wir an das Fremdeindringen in ein solches Lager denken. Ich frage mich, wie unser Leben aussähe, wenn wir an alle Lebensbereiche so rigorose Anforderungen an die Sicherheit stellten, wie an die Kernenergie. Die Notwendigkeit, ein gewisses Mass an Risiko tolerieren zu müssen, lässt sich nicht "wegreden".

Studien zeigen, der Verzicht auf Kernenergie ist theoretisch möglich, aber teuer. Sind die Konsumentinnen und Konsumenten bereit, mehr für Öko-Strom zu bezahlen?

Jochem:

Dies ist eine Frage der Optionen. Wenn die Option Öko-Strom gilt, für die Kilowattstunde 10 Rappen mehr zu bezahlen, dann gibt es viele Konsumentinnen und Konsumenten, die bereit sind, sich damit einen ruhigen Schlaf zu erkaufen. Das Problem liegt dann allerdings darin, dass die ökonomischen Verflechtungen zwischen den Volkswirtschaften so gross sind, dass es für stromintensive Industrien bei Alleingängen bei Strompreisaufschlägen schwierig wird. In Deutschland gibt es hingegen Dienstleistungsunternehmen, die beziehen Ökostrom, um ihr Image damit aufzupolieren.

Könnte man die Energie besser nutzen?

Jochem:

Heute fallen im Durchschnitt 38% auf der Nutzenergiestufe als Verluste an. Beispielsweise könnten die Energieverluste bei Gebäuden sogar um einen Faktor zehn reduziert werden. Bei Autoverbrennungsmotoren fallen gar 80% als Verluste an. Wie lange kann es sich eine moderne Gesellschaft leisten, derartige gewaltige Energiemengen zu verpuffen? Über diese Frage werden wir uns wahrscheinlich erst Gedanken machen, wenn es zu spät ist. Man benutzt Autos für den Stadtverkehr, die für die Fahrt durch Schlamm und Flüsse konzipiert sind und daher zwei Tonnen wiegen. Statt drei Liter bei Cityautos benötigen diese 25 Liter auf 100 km. Wenn man diese schweren Wagen gar nicht zulassen würde, sondern nur noch kleinere, dann hätte man auch einen um den Faktor fünf verminderten Stahlbedarf. Es geht noch weiter. In Deutschland hat man alte Leute, die in grossen Wohnungen leben, gefragt, ob sie in eine kleinere Wohnung ziehen wollen, wenn man ihnen beim Umziehen behilflich wäre. Fünfhundert haben in einem ersten Test ja gesagt. Pro Umzug wurden im Schnitt so 20 Quadratmeter gewonnen.

Und wo liegen aus Ihrer Sicht die grössten Herausforderungen der Energieproblematik?

Jochem:

Wir sollten die Energieproblematik nicht beschränkt auf ein Land betrachten, sondern global. Für mich ist die Frage: Wie schafft es die Nordwelt mit maximal einer Milliarde Menschen, die Technologieentwicklung so voranzukatapultieren, dass die Menschheit es schafft, mit dem Klimawandel einigermassen über die Runden zu kommen. Die zukünftigen gravierenden Schäden werden nicht die Schäden der Kernenergie sein, sondern die des Klimawandels. Aber auch die Armut wird Schäden mit sich bringen. Es würde mich nicht wundern, wenn die terroristischen Aktivitäten noch weiter zunehmen würden - ausgelöst durch die soziale Ungerechtigkeit weltweit.

Das Interview in voller Länge erscheint heute im ETH-Bulletin "Energietechnik". (1)


Die Gesprächsteilnehmer

Hans Issler

ist Präsident der Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle).

Eberhard Jochem

ist Professor für Nationalökonomie und Energiewirtschaft and der ETH Zürich und Mitglied des Rates für Nachhaltige Entwicklung der deutschen Bundesregierung.

Wolfgang Kröger

leitet den Forschungsbereich "Nukleare Energie, Sicherheit" am Paul Scherrer Institut (PSI) und ist Professor für Sicherheitstechnik an der ETH Zürich.

Leo Scherer

ist Jurist mit einem Nachdiplom in Umweltlehre, war Besetzter von Kaiseraugst und arbeitet heute bei Greenpeace in der "Atomkampagne".




Fussnoten:
(1) www.cc.ethz.ch/bulletin



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