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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 23.05.2003 06:00

Archiv für Zeitgeschichte erschliesst einmalige Aktensammlung
Erinnerung an 20'000 Flüchtlinge

Im Rahmen eines mehrjährigen Projekts hat das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich das wichtigste jüdische Flüchtlingsarchiv der Schweiz erschlossen. Damit eröffnen sich für die Wissenschaft neue Möglichkeiten, die Geschichte der jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz zu erforschen.

Von Felix Würsten

Wie sich die offizielle Schweiz während des 2. Weltkriegs gegenüber den jüdischen Flüchtlingen verhielt, wurde in den letzten Jahren intensiv diskutiert. Wenig zu lesen war hingegen, wie sich die Situation damals aus Sicht der Flüchtlinge und ihren Betreuern darstellte. Das Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) der ETH Zürich (1) hat nun das wichtigste jüdische Flüchtlingsarchiv der Schweiz in einem mehrjährigen Projekt erschlossen und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Am letzten Mittwoch präsentierten die am Projekt Beteiligten die Forschungsdatenbank zu diesem Archiv.

Leben als Flüchtling in der Schweiz

Bei den Dokumenten in diesem Archiv handelt es sich um Dossiers, die früher in den Kellerräumen der Zentralstelle des Verbands Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) in Zürich lagerten. Der VSJF kümmerte sich seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland um die jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz. Die Personendossiers, welche vom Verband angelegt wurden, umfassen ganz unterschiedliche Dokumente: amtliche Formulare, Briefwechsel der Flüchtlingshilfe mit Behörden und den Flüchtlingen, Kopien von Gesuchen um Unterstützung, Rekurse gegen Ausreiseverfügungen, etc. Die Dossiers geben damit vielseitige Einblicke, wie die Flüchtlinge in der Schweiz lebten und mit welchen Problemen sie zu kämpfen hatten. Die Akten dokumentieren aber auch, wie umfassend sich der VSJF um die Flüchtlinge bemühte.

Lang gehegter Wunsch

"Der Wunsch, dieses Archiv zu erschliessen, bestand von Seiten der Forschung schon lange", erklären Claudia Hoerschelmann und Daniel Gerson vom AfZ. Doch erst Mitte der neunziger Jahre konnte das Projekt in Angriff genommen werden. Damals bezog der VSJF neue Räumlichkeiten und suchte daher einen geeigneten Ort für die Lagerung der Dokumente. Gleichzeitig fanden sich im Zuge der Holocaust-Debatte Geldgeber für die anspruchvolle Erschliessung. Insbesondere erklärte sich die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich bereit, im Sinne eines Beitrags zum jüdisch-christlichen Dialog, das Projekt mit 600'000 Franken zu unterstützen.

"Wir haben hier einen weltweit einmaligen Bestand an Dokumenten", meinen Hoerschelmann und Gerson übereinstimmend. Das Archiv umfasst insgesamt über 12'300 Dossiers, welche das Schicksal von mehr als 20'000 jüdischen Flüchtlingen nachzeichnen. Bis zu acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern waren zeitweise damit beschäftigt, die 170 Laufmeter Akten zu bearbeiten.

Fragile Dokumente verschimmelten

In einem ersten Schritt musste das Material fachgerecht konserviert werden. Die Dokumente - viele davon ohnehin fragil, da das Papier aus der Kriegszeit stammt - waren teilweise wegen den ungünstigen Lagerbedingungen angeschimmelt und mussten mit Chemikalien behandelt werden. Anschliessend wurden die Schriftstücke neu sortiert und die Informationen zu jeder einzelnen Person in eine Datenbank aufgenommen.

Die Historikerinnen und Historiker haben dabei nicht nur die Personalien der Flüchtlinge erfasst, sondern auch viele weitere Angaben, etwa wann die entsprechende Person in die Schweiz einreiste, wann sie das Land allenfalls wieder verliess, welchen Status sie in unserem Land hatte und von wem sie unterstützt wurde. Insgesamt umfasst die Datenbank rund 100 Felder.

Beträchtlicher Koordinationsaufwand

Damit aus einer derart akribischen Erfassung eine praxistaugliche Datenbank entsteht, braucht es eine konsistente Eingabe der Daten. Der Koordinationsaufwand war denn bei diesem Projekt auch relativ gross, wie Hoerschelmann erzählt. "Es brauchte schon einige Teamsitzungen, um das Vorgehen bei der Eingabe abzustimmen." Die Datenbank ermöglicht es nun, sowohl einzelne Flüchtlingsschicksale nachzuzeichnen als auch allgemeine Themen zur jüdischen Zeitgeschichte zu bearbeiten.


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Claudia Hoerschelmann (links) und Daniel Gerson zusammen mit Jolana Gross, die lange Zeit als Flüchtlingshelferin tätig war und früher das Archiv des VSJF betreute. gross

Zufriedene Gesichter bei der Präsentation der Forschungsdatenbank. Von links: Ruedi Reich, Kirchenratspräsident der Ev.-ref. Landeskriche Zürich, Rolf Bloch, Präsident Stiftung Jüdische Zeitgeschichte, Karin Krauthammer, Präsidentin VSJF, Klaus Urner, Leiter AfZ, Alfred Donath, Präsident SIG (verdeckt) und Eva Koralnik, Zeitzeugin. gross

Stoff für neue Forschungsarbeiten

Doch besteht denn nach der Arbeit der Bergier-Kommission überhaupt noch Forschungsbedarf zu diesem Thema? "Das Flüchtlingsarchiv ist als Dokumentation der privaten Flüchtlingshilfe eine wichtige Ergänzung zu den amtlichen Akten", erklärt Hoerschelmann. Im Archiv finden sich auch Unterlagen über Personen, die erst nach dem 2. Weltkrieg in die Schweiz flüchteten, etwa nach dem Ungarnaufstand und der Suezkrise (1956), als viele ägyptische Juden ihr Land verlassen mussten, sowie nach der Besetzung der Tschechoslowakei (1968). "Gerade diese Dossiers bieten Stoff für neue Forschungsprojekte", meint Gerson. So liesse sich anhand dieser Unterlagen beispielsweise aufzeigen, wie verschieden die Flüchtlinge aus Osteuropa und Ägypten in der Schweiz behandelt wurden.

Auf den Spuren der Vorfahren

Das Archiv steht nicht nur Forscherinnen und Forschern offen, sondern auch Privatpersonen, die mehr über die Geschichte ihrer Vorfahren herausfinden möchten. Damit Interessierte nicht eigens nach Zürich reisen müssen, plant das AfZ, die Bestellung von Kopien der Dossiers via Internet zu ermöglichen. Angehörige der Flüchtlinge können diese Kopien dann bei einem Partnerarchiv des AfZ einsehen. Dass die Dokumente den Betroffenen nicht direkt zugeschickt werden, sondern erst nach einer Personenkontrolle durch die Partnerarchive ausgehändigt werden, hat seinen guten Grund. "Die Dossiers enthalten doch sehr viele persönliche Daten", berichtet Gerson. "Wir müssen daher sehr vorsichtig sein, wem wir die Unterlagen zur Einsicht freigeben."


Fussnoten:
(1) Homepage des Archivs für Zeitgeschichte: www.afz.et hz.ch/



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