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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 01.10.2002 06:00

Interview mit ETH-Chemieprofessor Andrea Vasella
Arbeiten als Religionsersatz?

ETH-Professor Andrea Vasella über die Zukunft der Chemie, die Ausbildung an den Gymnasien und über Ethik als Krankheitssymptom.

Von Richard Brogle

Würden Sie noch einmal Chemie studieren?

Kaum, aber wer kann sich richtig in die Zeit zurückversetzen? Was auch immer ich anderes studieren würde - idealerweise hätte ich vorher doch ein Diplom in Chemie oder einer verwandten Disziplin erworben. Das Chemiestudium mit dem gegenwärtigen Curriculum erscheint mir jedoch nicht mehr anziehend genug, obschon ja die Kombination von Theorie und Praxis in der Chemie einmalig ist.

Wie müsste Ihrer Meinung nach das Chemiestudium aussehen?

Ausgangspunkt ist das Gymnasium. Ich gehe davon aus, dass viele Schüler im Fach Chemie nichts mehr lernen. Was ich noch mehr vermisse als eine fachliche Vorbildung ist aber die Beherrschung der Muttersprache und des folgernden Denkens. Leider scheint das Gymnasium keine Leistungslust zu vermitteln, die Leistung wird nicht als Lustquelle betrachtet. Nachdem man gerne annimmt, dass alle Menschen gleich seien, und nachdem man aus weniger Begabten keine Hochbegabte machen kann, glaubt man wenigstens die Förderung der Hochbegabten vernachlässigen zu dürfen. Das ist wohl auch ein Ergebnis einer Wohlstandsschädigung.

Professor Vasella: "Man schreibt den Studierenden zu viel vor. Jede Einschränkung der akademischen Freiheit muss mit grösster Zurückhaltung erfolgen." gross

Und auf Hochschulniveau?

Über die letzen dreissig Jahre ist der einmalig gute Unterricht in organischer Chemie nicht besser geworden, was auch mit der geringeren Zahl der Unterrichtsstunden zusammenhängt. Die Studierenden müssten endlich früher mit der Spezialisierung beginnen dürfen und eine bessere praktische Ausbildung erhalten. Die Betonung des "Generalistentums" mag in gewissen Bereichen ihre Berechtigung haben, verschleiert aber den Blick dafür, dass in der Forschung vertiefte Kenntnisse unabdingbar sind, idealerweise auf mehr als einem Gebiet. Die Kenntnisse der Sprache der Biologie ist unabdingbar.

Je nach Wahl durch die Studierenden muss die Vertiefung eines chemischen oder eines biologischen Fachgebietes in bedeutend grösserem Umfang als heute Teile der "klassischen" chemischen Fächer ersetzen dürfen. Man schreibt den Studierenden zu viel vor. Jede Einschränkung der akademischen Freiheit muss mit grösster Zurückhaltung erfolgen. Es geht auch um die Güter Initiative, Selbstverantwortung und Begeisterung, die zusammen mit Wissen und Können vermittelt werden müssen oder wenigstens nicht gefährdet werden dürfen.

Es herrscht eine Manie, gemäss der "die Verantwortlichen" wissen, was für die Studierenden gut ist, und dies besser, als die Studierenden selber. Eine Folge davon: während der Dissertation müssen noch Grundlagen vermittelt werden, die man voraussetzen möchte - und selbst während der Dissertation, die zur Unabhängigkeit erziehen soll, wird den Doktoranden "Allgemeinbildendes" vorgeschrieben. Die Professoren schliesslich müssen weit mehr Zeit für die Forschung und für die Förderung ihrer Mitarbeiter aufwenden können und entsprechend weniger für Sitzungen und Kommissionen.

Nach dem Entscheid von Novartis, das neue Forschungszentrum in den USA zu bauen, drängt sich die Frage auf, ob die Forschung in der Schweiz noch eine Zukunft hat.

Die Frage betrifft die Vorteile des Standortes Schweiz. Der Grund, warum in der Schweiz geforscht wird und Industrien existieren, sind meines Erachtens die Erschliessung und Offenheit der Schweiz, das intellektuelle Potential, die Qualität der Ausbildung, und steuerliche Vorteile. Talent und seine Förderung werden immer noch wichtiger werden.


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Professor Vasella: "Ein Krankheitssymptom sehe ich in der Betonung der Ethik." gross

Das heisst: wie viele Leute werden an welchem Standort wie gut ausgebildet? Wo ist wahre Exzellenz vorhanden? Die Schweiz hat weitgehend recht, wenn sie der Meinung ist, ihre Forschung sei auf hohem Niveau. Aber sie vergisst, dass der Qualitätszuwachs im Ausland in viel höherem Tempo vorangetrieben wurde und wird. Wenn die Schweiz mit der Stagnation weiter macht, ist es nur eine Frage der knappen Zeit, bis sie links und rechts überholt wird. Es braucht mehr Forschungsgeld, weniger Föderalismus, bessere Forschungsinstrumente und ein effizientes Management der Forschung.

Sie sagen, heute würden Sie kaum mehr Chemie studieren. Wer wählt heute das Chemiestudium?

Heute wählen viele ein Studium in der mehr oder weniger bewussten Hoffnung, dabei auch einen Lebenssinn zu finden. Für andere Fächer gilt das wohl mehr als für die Chemie. Bei Chemie-Studierenden findet man sehr verschiedene Begabungen; oft finden sie eine nur theoretische Ausbildung einseitig und werden von den praktisch-gestalterischen Seite der Chemie angezogen, andere wollen mehr über die Natur wissen, und zwar nicht auf so abstrakter Ebene, dass sie nicht mehr auf einem Stuhl sitzen sondern auf einem Aggregat an Elementarteilchen. Eine genauere Antwort ist schwierig, da ein sehr breites Spektrum an Begabungen festzustellen ist.

Worin finden Sie den Lebenssinn?

Die Antwort muss wohl jeder selber suchen. Zunächst: Welches sind die wesentlichen Fragen, auf die ich eine Antwort finden muss? Wesentliche Fragen werden innerhalb der Religionen gestellt und letztlich übereinstimmend beantwortet. Diese innere Einheit ist ein Schlüssel zur Erkenntnis des Wesentlichen. Der Beruf lässt sich als Teil des Schicksals sinnvoll auffassen, aber vernünftigerweise kaum als Religionsersatz.

Hat nicht Scheler einmal gesagt, dass der religiöse Akt von jedem Menschen notwendig vollzogen werde? Arbeit als "pseudoreligiöser Akt" ist ungesund, und eine seltsame Ergänzung zur Abkehr von der Leistungslust; vielleicht ein Krankheitssymptom unserer Gesellschaft? Ein weiteres Krankheitssymptom sehe ich in der Betonung der Ethik. In einer materialistischen Gesellschaft wäre ja alles erlaubt, was zu materiellem Erfolg führt; zur Erhaltung "von aussen" der durch diese Haltung gefährdeten Güter braucht es Gesetze und Methoden, um diesen Nachachtung zu verschaffen.

Wenn keine "inneren" Werte wirken und die Abschreckung durch Gesetz und Strafe nicht genügt, muss man freilich versuchen, der Gesellschaft wieder beizubringen, was sie tun darf. Wenn also die Ethik so stark betont wird, dann heisst das, dass man nicht mehr von sich aus weiss, was zu tun und zu lassen ist, und das darf man wohl als eine Art Krankheit betrachten. Man sollte sich an den Scheler'schen Satz erinnern!


Zur Person

Andrea Vasella studierte Chemie und Biologie in Freiburg i. Ue., wo er 1966 mit einem Lizentiat in Naturwissenschaften abschloss. 1971 doktorierte er bei D. Arigoni an der ETH. Andrea Vasella wurde 1988 zum ordentlichen Professor ernannt und leitete das Organisch Chemische Institut von 1987-1989.

Der grösste Teil der Forschungsgruppe von Professor Vasella befasst sich mit Kohlenhydraten. Hauptsächliche Forschungen gelten der genaueren Aufklärung des Wirkmechanismus von Glycosidasen und verwandter Enzyme mit Hilfe der Synthese und kinetischen Charakterisierung von übergangszustandsanalogen Inhibitoren.

1981 wurde Andrea Vasella der Werner Award der Schweizerischen Chemischen Gesellschaft und im Jahre 1992 der "Roy L. Whistler Price" der "International Carbohydrate Organization" verliehen.




Literaturhinweise:
Die Vasella-Gruppe: avws-indi2.ethz.ch



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