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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 22.04.2003 06:00

Trägheit wichtiger als Reibung
Wie Fliegen fliegen

Die Trägheit und nicht die Reibung ist der bestimmende Faktor, wenn sich die Fruchtfliege Drosophila melanogaster im Fluge dreht. Dieser Befund und weitere unerwartete Einsichten in den Fliegenflug ergaben sich für einen ETH-Forscher, nachdem er die Fliege mit einer Auflösung von 5000 Bildern pro Sekunde gefilmt hatte.

Von Christoph Meier

Drosophila ist, seit Thomas H. Morgan um 1910 mit ihr die Genetik als eigenes Wissenschaftsgebiet etablierte, ein Modellorganismus der Biologie. Trotz der vielfältigsten Forschungen an der Fruchtfliege blieb aber eine Eigenschaft bis heute relativ unklar: der Flug der Fliege. Doch fliegt die Fliege überhaupt? Die Frage ist weniger absurd, als sie tönt. Denn bis jetzt wurde angenommen, dass die Insekten, je kleiner sie sind, mehr in der Luft schwimmen als fliegen. In diesem Modell würde die Reibung beim Insektenflug eine dominierende Rolle spielen, und jegliche Bewegung ohne aktiven Antrieb innerhalb von Millisekunden gebremst werden. Doch die Fliege fliegt wirklich, wie eine neue im Wissenschaftsmagazin „Science“ publizierte Studie (1) zeigt. Erstautor der Arbeit ist Steven Fry vom Institut für Neuroinformatik der ETH und Universität Zürich (2).

Fliegenflugsimulator

Fry ist schon lange fasziniert von fliegenden Insekten, aber auch davon, wie man sie mit modernster Technologie untersuchen kann. Darum entschloss er sich, einen Postdoc zur Aerodynamik bei Insekten in der Gruppe von Michael H. Dickinson in Berkeley (heute am CalTech) zu machen. Dem amerikanischen Forscher war es kurz zuvor erstmals gelungen, die aerodynamischen Mechanismen des Insektenfluges experimentell zu ergründen. Zu diesem Zweck hatte seine Gruppe einen Roboter mit zwei künstlichen Insektenflügeln in einem Mineralölbad entwickelt. Damit konnten die Forscher die Kräfte messen, die auf die schlagenden Flügel wirken. Da jedoch nur ungenaue Daten über die Flügelbewegung von Insekten vorhanden waren, gab diese Arbeit zwar Aufschluss über die generellen aerodynamischen Prinzipien, ohne aber letztlich die Frage beantworten zu können, wie sie beim Fliegenflug tatsächlich zum Zuge kommen.

Dafür waren hochpräzise Messungen der Flügelbewegungen einer Fliege vonnöten, ein Unterfangen, das erst durch die Entwicklung digitaler Hochgeschwindigkeitskameras möglich wurde. Zur Zeit als Dickinson gerade im Begriff war, drei Hochgeschwindigkeitskameras mit einer Auflösung von 5000 Bildern pro Sekunde zu beschaffen, entwickelte Fry den anspruchsvollen Projektplan, die Körper- und Flügelbewegungen in einem frei fliegenden Insekt genau zu messen, um danach die aerodynamischen Kräfte im freien Flug quantifizieren zu können.

Saures Lockmittel

Dickinson zeigte Interesse an einer solchen Postdoc-Arbeit, äusserte aber auch Bedenken. Würde es wirklich gelingen, eine Fliege erstmals im freien Flug gleichzeitig vor das Objektiv von drei Kameras zu bringen, was für eine exakte Flügelpositionsbestimmung nötig war? Auch Fry sah Schwierigkeiten auf sich zukommen. Denn er wollte nicht nur den freien Flug einer Fliege flimen, sondern setzte sich überdies das Ziel, schnelle Drehmanöver um 90 Grad aufzunehmen. Während diesem Sakkade genannten, für den Fliegenflug typischen Manöver, das weniger als eine Zehntelsekunde dauert, erwarteten die Forscher auffällige Veränderungen bei den Flügelbewegungen.

Den ersten Filmversuchen war kein Erfolg beschieden. Die Fliegen flogen in der Versuchskammer nie in den von allen drei Kameras erfassten Bereich. Fry war schnell klar, dass das Hoffen auf den Zufall zu lange dauern würde. Mit einem kleinen Gefäss, in das Fry einen Tropfen Essig gab, änderte sich die Situation schlagartig. Bereits nach einer Woche hatte eine Fliege in der „heissen“ Zone einen Flug mit einem vollständigen Drehmanöver absolviert.


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Der Fliegenflug wird von der Trägheit und nicht der Reibung dominiert. (Bild: Steven N. Fry) gross

Steuern wie in der Formel-1

Das ganze Labor kam zusammen, um den ersten Film eines freien Drosophila-Fluges anzuschauen. Einiger Aufruhr entstand schon beim Betrachten des Videos: Ein bisher als unabdingbar erachteter, instationärer aerodynamischer Mechanismus zur Luftkrafterzeugung, der durch das Zusammenschlagen der Flügel über dem Körper (clap-and-fling) zustande kommt, erfolgte offensichtlich nicht. Für die weitere Analyse musste Fry eigens eine Software entwickeln. Mit dieser bestimmten er und seine Kollegin Rosalyn Sayaman die genaue Körper- und Flügelposition basierend auf Tausenden von Bildern sechs vollständiger Drehmanöver. Die Abfolge der verschiedenen Flügelpositionen enthielt die zweite Überraschung. Die Flügelschläge sahen bei den extremen Wendemanövern praktisch gleich aus, wie beim Geradeausfliegen. Die erwarteten Auffälligkeiten blieben aus. Die Flügel der Fruchtfliege bewirken demzufolge extreme Flugmanöver mit geringfügigsten Änderungen ihrer Bewegung, gewissermassen dem lenkfreudigen Steuerrad eines Formel-1 Rennwagens entsprechend.

Schub und Gegenschub

Um dem Geheimnis, wie Drosophila rotiert, auf die Spur zu kommen, entschloss sich Fry, die Drehmomente während einer Sakkade zu messen. Für die Messung der Flugkräfte konnte der Forscher einen eben aus der Taufe gehobener dynamisch-skalierter Roboter, Bride of Robofly genannt, erstmals einsetzen. Die gemessenen Kräfte, umgerechnet in die auf die Fliege wirkenden Drehmomente, machten die nächste Sensation perfekt. Es zeigte sich nämlich, dass die Drehmomente während einer Sakkade mit der Winkelbeschleunigung korrelierten und nicht mit der Winkelgeschwindigkeit.

Daraus konnte man schliessen, dass die Dynamik des Fliegenkörpers von der Trägheit dominiert wird und nicht von der Reibung, wie bisher angenommen. Somit reichen auch geringfügig unterschiedliche Bewegungen der zwei Flügel aus, um den Körper der Fliege in Rotation zu versetzen. Damit aber die Fliege dem Trägheitsprinzip entsprechend sich nicht einfach weiter um die eigene Achse dreht, braucht es schnell Gegensteuer anhand von wohl dosierten Flügelschlägen, die ein entgegenwirkendes Drehmoment erzeugen. Das Steuerungsprinzip ist also Schub und Gegenschub und das innerhalb von etwa zehn Flügelschlägen, die für eine Sakkade benötigt werden.

Diese Erkenntnis liefert nun die Basis, um die dazugehörigen neuronalen und physiologischen Steuerungsmechanismen zu analysieren. Auch wenn man noch weit davon entfernt ist, den Fliegenflug von den sensorischen Signalen über deren Verarbeitung im Gehirn bis hin zu den einzelnen Flügelbewegungen zu verstehen, eines ist schon jetzt klar: die Fliege fliegt.


Fussnoten:
(1) Steven N. Fry, Rosalyn Sayaman, Michael H. Dickinson "The Aerodynamics of Free-Flight Maneuvers in Drosophila", Science 18. April 2003.
(2) The Institute of Neuroinformatics: www.ini.unizh.ch/



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