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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 22.09.2004 06:00

Stretchen: sinnvoll oder nutzlos? Antworten vom ASVZ
Vom Wippen und anderen Turnübungen

Seit den 1980er-Jahren sorgt eine Frage in den Sportwissenschaften für angeregte Debatten: Ist Stretchen sinnvoll oder nutzlos? In den Medien wird die Diskussion meist nur verknappt wiedergegeben – erst kürzlich mit der Schlagzeile: „Schluss mit nutzlosen Dehnübungen!“ Oft sind die Artikel unvollständig oder sogar falsch, kritisieren Vertreter des ASVZ und machen mit einer eigenen Broschüre auf den Nutzen des Stretchings aufmerksam.

Von Michael Breu

„Fast alle machen es, und kaum jemand weiss warum“, kritisiert der Tiroler Sportarzt Kurt A. Moosburger im Newsdienst der Medizinischen Universität Innsbruck. Die Rede ist von Stretching, vom Stretchen und Dehnen. „Der Stand der Dehnforschung ist nicht so einfach darzulegen, da noch nicht alle Fragen geklärt sind. Aber ein paar Mythen kann man entkräften“, findet Moosburger. Am meisten für Missverständnisse sorgt die Begriffsdefinition. Denn nicht alle verstehen das gleiche, wenn man vom Stretchen spricht. Einige fassen den Begriff auf, wie er vor fünfzig Jahren definiert wurde, als dynamische Dehnübungen, die mit viel Schwung ausgeführt werden: „Wippen war der Hit, und gymnastische Bewegungen versprachen eine vitale Fitness“, blickt Sandra Bonacina, Physiotherapeutin, Sportlehrerin und Dozentin am ETH-Institut für Bewegungs- und Sportwissenschaften, im Magazin „Fitness Tribune“ (2002, 1: 86-89) zurück. In den 1980er-Jahren habe eine neue Stretchingwelle das Dehnen verändert, Wippen war fortan verpönt, statisches Stretchen in.

Dehnen taugt nicht gegen Muskelkater

Inzwischen haben Bewegungs- und Sportwissenschafter (1) einiges an Fachwissen aufgearbeitet und überprüft. Dennoch sind zahlreiche Fragen offen. „Wissenschaftlich erwiesen ist bisher nur, dass ein Muskel durch Stretching eine grössere Gelenkreichweite erreicht. Alle anderen Effekte dagegen beruhen mehr oder weniger auf Vermutungen, die aus diesem einen Ergebnis abgeleitet wurden“, meint Thomas Jöllenbeck, Sportwissenschafter an der Uni Wuppertal. Zusammen mit dem Wuppertaler Uniprofessor Klaus Wiemann hat Jöllenbeck das Verhalten der Muskulatur auf verschiedene Arten des Stretchings untersucht: „Die Ergebnisse stellen viele der bisherigen Vermutungen auf den Kopf, denn intensiv betriebenes Stretching verändert nicht die Muskellänge, führt zu einer Zunahme der Muskel-Ruhespannung und erhöht die Verletzungsgefahr.“ Eine andere Untersuchung, veröffentlicht in der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin (1995, 9:411-421) zeigt, dass Muskelkater durch statisches Dehnen nicht verhindert werden kann und kurzfristige Dehnübungen vor Kraftbeanspruchungen die Gefahr von Muskelbeschwerden eher steigern als vermindern. Erst kürzlich sorgte eine (vor zwei Jahren im British Medical Journal veröffentlichte) Untersuchung in den Schweizer Medien für Schlagzeilen: „Schluss mit nutzlosen Dehnübungen!“, titelte etwa der Pulstipp im Mai 2004. Die Metastudie der School of Physiotherapy der University of Sydney kam zum Schluss, dass Dehnübungen das Verletzungsrisiko (von Soldaten) nicht verhindern und Muskelkater-Beschwerden (von Hobbyathleten) nicht reduzieren können (BMJ, 2002, 325: 468-470). Eine ähnliche Untersuchung, veröffentlicht im Fachmagazin Manual Therapy, kam im Januar 2003 zu ähnlichen Schlussfolgerungen (2003, 8(3): 141-150). „Leider stützen zur Zeit die meisten Studien die Ergebnisse auf statisches Dehnen ab und unterscheiden zuwenig die verschiedenen Dehntechniken“, findet Sandra Bonacina.

Heiner Iten, Sportlehrer beim Akademischen Sportverband Zürich (ASVZ) (2), mag über solche Studien nur den Kopf schütteln: „Natürlich kann Stretchen einen Muskelkater nicht verhindern. Auch wird ein Muskel nicht länger, wenn man ihn dehnt.“ Der Grund dafür ist einfach: Muskelkater entsteht, wenn bei hoher Belastung feine Muskelfasern reissen; was gerissen ist, lässt sich durch Dehnen nicht wieder zusammenfügen. Und: Ein Muskel kann durch Stretching nicht verlängert werden, sein Grösse ist definiert. Zum gleichen Thema gehört übrigens auch die Beweglichkeit der Gelenke, die sich nur geringfügig beeinflussen lässt.


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Nach dem Sport: Bewegungswissenschafter empfehlen, die Muskeln zu dehnen. gross

„Was wir aber sicher sagen können: Stretchen steigert die Beweglichkeit, ist sicher geeignet für die psychische Entspannung vor und nach dem Training, kann aber auch Verletzungen vorbeugen“, sagt Iten. Seine Erklärung ist plausibel: „Stretchen steigert die Elastizität der Muskeln.“

Der ASVZ hat deshalb in diesem Sommer – unter Federführung von Sandra Bonacina und Heiner Iten – eine breite Kampagne zum Thema „Stretchen“ gestartet und dazu einen Flyer mit Tipps und Tricks herausgegeben. Darin heisst es: „Vordehnen bereitet die Gelenke, Muskeln, Nerven und Gefässe optimal auf körperliche Aktivitäten vor. Nachdehnen entspannt und fördert eine schnelle Regeneration des Körpers. Zwischendurch Dehnen weckt und fördert die Konzentrationsfähigkeit, streckt die Gelenke und Muskeln, regt die Blutzirkulation an und beugt einseitige Haltungen vor.“ Und weiter: „Ein Dehntraining verbessert die Dehntoleranz der Muskulatur, erhöht den Bewegungsradius der Gelenke und beugt Haltungsschäden vor.“ Diese allgemeinen Aussagen, so sagen Bonacina und Iten, seien wissenschaftlich untermauert. „Heute weiss man viel über die Funktion des Muskels – zum Beispiel über die Spannungsbalance“, erklärt Sandra Bonacina. Darunter versteht man das Zusammenspiel von Strecker und Beuger, von Agonist und Antagonist. Ein Beispiel: „Wer den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt, belastet Gelenke und Muskeln sehr einseitig. Alle Beugemuskeln liegen stets in verkürzter Haltung. Sich Strecken und Dehnen dieser Muskeln entspannt die Beugemuskeln.“

Fachlich untermauert

Die Aussagen im Flyer werden von den meisten Sportwissenschaftern unterstützt: „Dehnen eignet sich in erster Linie zur Steigerung der Beweglichkeit“, sagte Jürgen Freiwald, Bewegungswissenschafter an der Bergischen Universität Wuppertal und Autor mehrerer Fachbücher zum Thema Stretchen (demnächst erscheint im Rowohlt-Verlag sein neustes Buch „Das neue Dehnen – Fakten, Legenden, Praxis“) kürzlich in einem Interview mit dem ZDF, und der Zürcher Sportmediziner Walter O. Frey meinte im Pulstipp-Gespräch: „Um beweglich zu bleiben, kommen wir ums Dehnen nicht herum“.


Tipps und Tricks

(mib) „Beweglichkeit gehört nebst Ausdauer und Kraft zu den unverzichtbaren Inhalten von Training und Sport. Beweglichkeit und Kraft kombiniert mit einer guten Wahrnehmung bieten besten Schutz für Gelenke und Muskulatur“, heisst es im neusten Flyer „Stretchen“ des Akademischen Sportverbands Zürich (ASVZ). Gezeigt werden acht Basisübungen, welche die wichtigsten Bereiche des Körpers dehnt und mobilisiert. Dazu gehören die Nackenmuskulatur, die Brust-, und Gesässmuskulatur sowie die Hüft-, Ober- und Unterschenkelmuskulatur. Fünf weitere Übungen befassen sich mit der Rumpf-, Hüft-, Oberschenkel- und Armmuskulatur. Die insgesamt 14 Stretchübungen können Indoor (also in der Turnhalle), Outdoor (auf der Wiese oder im Wald) oder im Büro ausgeführt werden. Der Flyer ist eine optimale Ergänzung zur letztjährigen Broschüre, die sich mit dem „Kräftigen“ befasste. „Stretchen“ ist beim ASVZ erhältlich.




Fussnoten:
(1) Institut für Bewegungs- und Sportwissenschaften der ETH Zürich: www.ibsw.ethz.ch/
(2) Akademischen Sportverband Zürich: http://www.asvz.ch



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