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Rubrik: Campus Life

Podiumsdiskussion "Definition der Armut"
Ist man ohne Handy arm?

Published: 16.05.2006 06:00
Modified: 25.08.2006 11:47
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Kann jemand arm sein, obwohl er Markenturnschuhe besitzt? Diese Frage beschäftigt sowohl die breite Bevölkerung als auch die Wissenschaft. An einer Podiumsdiskussion im Rahmen der laufenden Veranstaltungsreihe zum Thema Armut von Universität Zürich und ETH wurde die heikle Thematik letzte Woche aufgegriffen. Ein ETH-Professor, eine Vertreterin der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) sowie ein Wirtschaftsforscher sprachen im Zusammenhang mit der Definition von Armut von relativen und absoluten Standards.



Claudia Naegeli (mailto:claudia.naegeli@cc.ethz.ch)

„Arm ist, wer sich kein weisses Leinenhemd leisten kann.“ Bereits vor 200 Jahren setzte sich der Engländer Adam Smith mit der Definition der Armut auseinander. Was der Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaften damals beschrieb, ist auch heute noch von zentraler Bedeutung, wenn Wissenschaftler versuchen, den Begriff der Armut zu erläutern: das Recht zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wer vor 200 Jahren kein weisses Hemd besass, war einerseits von allen öffentlichen Anlässen wie dem Besuch des Gottesdienstes oder juristischen Verhandlungen ausgeschlossen und andererseits auch automatisch seiner Würde beraubt.

Breiter Begriff

Vor diesem Hintergrund warnte Rolf Kleimann vom Institut für angewandte Wirtschaftsforschung der Universität Tübingen vor einer „verkürzten Betrachtung der Armut“. Ein einzelner Indikator wie beispielsweise das Einkommen einer Person sage zu wenig über die Breite des Armutsbegriffs aus. „Wenn wir über die Gesundheit eines Menschen sprechen, betrachtet niemand den Blutdruck als einzige Referenzgrösse“, führte Kleimann aus. Genau wie die Gesundheit sei auch die Armut ein komplexes Konstrukt, das einer komplexen Analyse bedürfe.

Aus diesem Grund sei es wichtig, dass man die Armut sowohl über relative und als auch absolute Messgrössen definiere, erklärte Rolf Kappel, Professor für Probleme der Entwicklungsländer und Leiter des Nachdiplomstudiums für Entwicklungsländer (NADEL) an der ETH (1) . Absolute Messgrössen umfassen Indikatoren wie genügend Nahrung, Kleidung, medizinische Grundversorgung oder Obdach und ermöglichen sowohl Vergleiche über die Landesgrenzen hinaus als auch zwischen verschiedenen Zeitaltern. „Deshalb ist dieses Messkonzept für die Forschung interessant, aber auch für politische Zwecke“, erklärte Kappel. Wie arm jemand sei, werde aber weitgehend vom Umfeld einer Person bestimmt. Der soziale Kontext könne aber nur mit dem relativen Messkonzept hinreichend erfasst werden.

Nicht moralisch urteilen

Caroline Knupfer von der SKOS sprach in diesem Zusammenhang auch von einem menschenwürdigen Dasein. Doch wie viel ein Mensch dafür tatsächlich brauche, sei ebenfalls schwer zu definieren. Ob zu einem menschenwürdigen Dasein auch der Besitz von „Luxusgütern“ wie ein Fernseher, ein Mobiltelefon oder Markenturnschuhe gehören, sei von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. In der Schweiz komme es durchaus vor, dass Sozialhilfebezügerinnen ihr Geld für eine teure „Miss Sixty“-Jeans ausgeben, weil sie sonst in ihrem Umfeld nicht akzeptiert würden. „Das kann man gut oder schlecht finden, aber wir leben nun einmal in einer Konsumgesellschaft und dürfen nicht moralisch darüber urteilen, was jemand haben darf und was nicht“, betonte Caroline Knupfer.

"Armut heisst in Burkina Faso nicht das gleiche wie in der Schweiz", sagte ETH-Professor Rolf Kappel (links).

Eine Lösung zur Klärung der Definitionsfrage sieht Kappel in der Arbeit des Nobelpreisträges Artya Sen. Der Inder vereine die absolute und die relative Messmethode zu einem Konzept, in dem er von Befähigungen spreche. Um eine bestimmte Befähigung zu erreichen, braucht ein Mensch gewisse Güter und Dienstleistungen. „Die Befähigung kann somit als absolut und die Güter und Dienstleistungen als relativ eingestuft werden“, erklärte der ETH-Professor. Die Vermeidung von Scham sei somit eine absolute Grösse. Relativ sei jedoch, ob diese „Befähigung“ mit einem paar „Miss Sixty“-Jeans oder einem weissen Leinenhemd erreicht werde. „Das sind natürlich rein empirische Methoden, und Frau Knupfer steht vor dem Problem, diese mit konkretem Inhalt zu füllen“, sagte Kappel.

Wer tappt in die Armutsfalle?

„Mit welchen Mitteln eine bestimmte Befähigung erreicht werden kann, hängt auch immer vom individuellen Potenzial einer Person ab“, betonte Rolf Kleimann. So sei ein Student, der im Monat tausend Franken zur Verfügung habe, besser gestellt als ein 50-jähriger Mann, der mit dem gleichen Betrag auskommen müsse und sein Einkommen wohl nicht mehr steigern könne. Deshalb müsse man neben den einkommensschwachen Menschen auch Kranke oder Lern- und Leistungsschwache in die Armutsdiskussion einbeziehen.

Dass spezifische Bevölkerungsgruppen eher gefährdet sind, in die Armut abzurutschen, zeigen zahlreiche Studien auf. „In der Schweiz sind vor allem allein erziehende Frauen, Menschen aus dem Ausland, Personen ohne ausreichende formale Bildung und Familien mit mehr als drei Kindern gefährdet“, erklärte Caroline Knupfer. Aufgrund der schwach ausgebildeten Familienpolitik seien in der Schweiz Kinder immer noch ein Armutsrisiko.

Die so genannten Armutsfallen unterscheiden sich in Entwicklungsländern genauso wie die relativen Armutsbegriffe. Rolf Kappel betonte jedoch, dass auch in diesen Staaten die Armutsfallen nicht unumgänglich seien. „Armut ist kein Schicksal, das man nicht bezwingen kann“, sagte der Experte für Probleme der Entwicklungsländer. „Das zeigt der Umstand, dass die weltweite Armut in den letzten Jahren tendenziell abgenommen hat.“

Footnotes:
(1 Zur Website des NADEL: www.nadel.ethz.ch


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