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Rubrik: Forum
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Publiziert: 18.10.2001 13:00

Leichenfledderei
Leichenfledderei

Yvonne Voegeli

Lieber David,

Habe gestern Deine Leichenfledderei im ETH-life gelesen, d.h. eigentlich sind es ja gar keine Leichen, da die menschlichen Ersatzteillager jeweils noch bei lebendigem Leibe geplündert zu werden pflegen wie bei den alten Azteken. Und sollten es doch Verstorbene sein, dann sind sie sicher noch warm und gewissermassen ofenfrisch, obwohl sie nicht aus letzterem kommen, sondern - soweit noch was von ihnen übrig bleibt - dahin gehen. Hast mit deinem Artikel sicher Herzattacken und Magenkrämpfe ausgelöst und damit den Handel mit besagten Organen in Schwung gehalten...

Wie dem auch sei, du bist mit deinen Beispielen von früher arg in der Gegenwart stecken geblieben. Was ist denn schon die industrielle Revolution, die war doch erst neulich vor etwas mehr als 100 Jahren. ETHasen und -häsinnen, die sich in der Regel sowieso keinen Deut für Vergangenheit interessieren, könnten da in ihrer Annahme bestätigt werden, dass hinter dem 19. Jh. nichts mehr war als gleich der Urknall.

Natürlich vermute ich in meiner Bosheit, die Auswahl der Beispiele liege nicht allein an Deinem neuzeitlichen Lehrgebiet, sondern gehe auch auf protestantische Sozialisation oder dann political correctness zurück. Als Aussenstehender darfst und kannst du ja nicht Nestbeschmutzen. Was ich meine, siehst du gleich.

Bei den von Dir aufgezählten wohlfeilen Körperstücken hat es eines, das mich an was erinnert hat, mit dem "Deine" Körperökonomie sich historisch wesentlich vertiefen, der protestantische blinde Fleck erhellen und die political correctness etwas verkorrigieren lässt. Vielleicht brauchst Du das ja mal, wenn Du wieder auf das Thema zu schreiben kommst.

Also es gibt da ein nettes kleines Büchlein von einem Herbert Rosendorfer mit dem Titel "Venedig. Eine Einladung", herausgekommen bei Kiepenheuer und Witsch, München 1993. Dort steht auf Seiten 29 und 30 nach der beeindruckenden Liste von Leichenteilen, die die venezianischen Kaufleute zusammengekauft und geräubert haben, folgendes:

"Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, in Venedig werden auch die zwei Schädel des hl. Christopheros aufbewahrt: der eine aus seiner Jugend und der andere aus erwachsener Zeit, ein Trompeten-Mundstück von Jericho und eine der vierzehn anerkannt echten Vorhäute Christi. Die auch echten, nur nicht anerkannten Vorhäute sind gar nicht zu zählen."

Merke:

a) die Zellteilung eines bstimmten delikaten Körpergewebes war schon in mittelalterlicher Zeit (genaugenommen schon in der Antike, Jesus hat sich schliesslich unter anderen mit den alten Römern angelegt) eine sehr zahlreiche, und zwar allein mit spirituellen Kräften, d.h. religiösem Glauben bewirkt, während die heutige Transplantationsindustrie dazu allerlei teures materielles Brimborium braucht. Mag ja sein, dass das an der speziellen Herkunft der Vorhäute liegt, bei gewöhnlichen Sterblichen fehlt da wohl die nötige höhere Beihülfe. Soweit die polical incorrecte medizinhistorische Spöttelei aus abtrünniger rabenschwarzer Katholinnenseele.

b) was heutzutage Organhandel heisst, war annodunnemals und auch vielleicht noch heute der Reliquienhandel. Die christliche Kirche, nach der Reformation die katholische, hat schon immer einiges von Oekonomie verstanden, ergo auch von Körperökonomie bzw. die ideologisch und wirtschaftlich Mächtigen wussten schon immer sich zum gegenseitigen Vorteil zu arrangieren auch auf Körperebene. Aus konservierungstechnischen Gründen musste man sich damals zwar eher auf die Hardware, d.h. die Knochen konzentrieren, statt auf die Software sprich Weichteile. Allerdings gehört gerade das genannte teilungsaktive Gewebe wohl mehr zu letzteren.

c) das Ziel war heute wie damals das gleiche: einerseits wirtschaftlicher Gewinn, andererseits individuelles Wohlbefinden. Ersteres klappte sicher damals wie heute, letzteres vermutlich nur damals, weil nur auf psychischen Faktoren beruhend, während heute reale körperliche Eingriffe des öfteren Unwohlbefinden zur Folge haben.

d) usw. usf.

Herzliche Grüsse

Yvonne





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