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Publiziert: 21.12.2005 06:00


Endzeit

Kurt R. Spillmann

In Teheran bereitet Präsident Ahmadinejad die Rückkehr des „Mahdi“ – des islamischen Erlösers – vor. Aus seinen Verstecken in den Bergen des Grenzgebietes von Afghanistan und Pakistan arbeitet Osama bin Laden mit seinen Getreuen am Sturz des „Grossen Satans“ USA und an der Ausbreitung des wahren Glaubens auf die noch nicht islamischen Teile der Welt. In Sikkim (Nordindien) traf ich unlängst von amerikanischen Missionaren zum Christentum bekehrte Einheimische, die fest mit der Rückkehr Christi auf die Erde im Jahre 2006 rechnen. In den USA ist seit 1995 die Romanfolge Left Behind von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins mit über 60 Millionen verkauften Exemplaren ein Superbestseller.

Entrückte Gläubige

Was die Leser der zwölfbändigen Erfolgsserie (auch deutsch erhältlich als: "Finale. Die letzten Tage der Erde") interessiert, ist die realistische, in der Gegenwart angesiedelte und alle Prophezeiungen der Bibel in die Gegenwart übertragende Darstellung der Ereignisse des Weltendes. Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins schildern konkret, wie sich die Rückkehr Christi auf die Erde und sein Kampf – zusammen mit den Gläubigen – gegen den Antichrist und die Kräfte des Bösen abspielen. In der amerikanisch-christlich-fundamentalistischen Version heisst der Satan Nicolai Carpathia und war Generalsekretär der UNO, bevor er sich die Welt unterwarf. Die Welt muss vor ihrem Ende und bevor das Reich Gottes anbrechen kann durch eine Zeit entsetzlicher Kämpfe, Plagen und ökologischer Katastrophen gehen, von denen die wahren Gläubigen gnädigerweise durch „Entrückung“ verschont werden (mit der „Entrückung“ einiger Passagiere eines modernen Flugzeuges auf dem Flug nach Heathrow beginnt die Romanserie).

Das grosse Interesse fundamentalistischer Christen in Amerika an diesem Stoff hat weit zurückreichende Wurzeln. Bereits der allererste Bestseller der amerikanischen Geschichte war eine versifizierte Fassung der Geschehnisse des Weltendes nach der Offenbarung des Johannes: das 1662 veröffentliche Versepos "The Day of Doom" von Michael Wigglesworth. In der jüngsten Gegenwart wurde "The Late Great Planet Earth" von Hal Lindsey, 1970 veröffentlicht, mit 28 Millionen verkauften Exemplaren zum grössten modernen Apokalypse-Bestseller vor Left Behind.

Einfluss auf das Weisse Haus

Hal Lindsey war geistlicher Ratgeber im Weissen Haus und soll Präsident Reagan die so populäre Charakterisierung der Sowjetunion als „Reich des Bösen“ vorgeschlagen haben. Ronald Reagan wurde nicht müde, Lindseys Zusammenstellung aller biblischen Prophezeiungen über die Wiederkehr Christi und das bevorstehende Weltende seinen Freunden und Besuchern als wichtige Lektüre zu empfehlen.

Auch der gegenwärtige Präsident zählt – als born again Christian – zu den Anhängern fundamentalistischer Gedankengänge. Die Abneigung gegen die UNO (wo Carpathia wirksam war), die in Montreal sichtbar gewordene Indifferenz der amerikanischen Regierung gegenüber ökologischen Katastrophen als unausweichliche, notwendige und vorausgesagte tribulations, und die Ablehnung von Darwins Evolutionstheorie zugunsten der intelligent design genannten Schöpfungslehre sind alles Bestandteile eines Gedankengebäudes, das dem in der Bibel offenbarten Wort Gottes immer und unbedingte Prioriät auch vor jeder wissenschaftlichen Erkenntnis einräumt.

Angriff auf Universitäten

Dieses Denken (oder besser: Glauben anstelle von Denken) ist nun nicht auf einige extreme Zirkel beschränkt. Seit einer der ihren im Weissen Haus residiert und ihre politischen Vertreter in beiden Häusern des Kongresses stark geworden sind, fühlen sich fundamentalistische Christen mächtig genug, um auch zum Kampf gegen die Universitäten anzutreten: zur Zeit liegt eine Klage der Association of Christian Schools International (ACSI), die rund 4'000 christlich-fundamentalistische Schulen in den USA vertritt, gegen das kalifornische Universitätssystem (das auch UCLA und Berkeley umfasst) vor einem kalifornischen Bundesrichter wegen "viewpoint discrimination". Die University of California hatte Absolventen dieser Schulen die Aufnahme an die Universität verweigert, weil sie aufgrund eines Lehrbuches unterrichtet worden waren, dessen Autoren bereits im Vorwort erklären: „The people who have prepared this book have tried consistently to put the Word of God first and science second.“ Damit gebe dieses Lehrbuch nicht das in der Wissenschaft allgemein akzeptierte Wissen wieder, mit dem Universitätstudierende vertraut sein sollten. Der Prozess ist eben erst angelaufen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird er bis zum höchsten Bundesgericht weitergezogen werden.

Während das Endzeitdenken religiöser Fundamentalisten das rationale wissenschaftliche Denken von der einen Seite her zu entthronen versucht, weisen von der anderen Seite her auch prominente Wissenschaftler auf mögliche Endzeitszenarien hin und melden Zweifel an, ob der Mensch in der Lage sei, sich und die biologischen Grundlagen dieser Welt vor der Selbstzerstörung zu bewahren.

Am 10. Dezember 2005 ging in Montreal die UNO-Konferenz zum Klimawandel mit der klaren Botschaft der nach tausenden zählenden Experten und Delegierten zu Ende, dass die Menschheit über die nächsten Jahre entweder ihre CO2-Emissionen um 60 bis 80 % reduzieren müsse oder durch eine Klimaerwärmung von 2 bis 3 Grad innerhalb dieses Jahrhunderts mit schwerwiegenden Veränderungen der Klimata (und damit der Lebensmöglichkeiten) auf allen Kontinenten, und – wegen des Abschmelzens der Eiskappen an Nord- und Südpol – mit einer Erhöhung der Meeresspiegel um bis zu 25 Meter, das heisst mit einer allmählichen Überflutung von dicht besiedelten Küstengebieten rund um den Globus zu rechnen haben werde.


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Kurt R. Spillmann, emeritierter ETH-Professor für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung.

Auch Sir Martin Rees, britischer Astronomer Royal (und einer der Referenten am Einstein-Symposium der ETH im Juni 2005) vertritt in seinem Buch "Our Final Hour" (2003; deutsch: Unsere letzte Stunde, München, 2003) die seriös durchargumentierte These, dass die Zeit des Menschen auf diesem Planeten an ihr Ende zu kommen scheine, da der Mensch selbst sein Überleben bedrohe: „Im 21. Jahrhundert wird sich die Menschheit stärker als je zuvor der Gefährdung durch Missbrauch der Wissenschaft ausgesetzt sehen. Und die durch kollektives Handeln der Menschen erzeugten Belastungen der Umwelt könnten Katastrophen auslösen, die bedrohlicher sind als alle Naturkatastrophen.“ (S.196)

Endzeitstimmung auch bei Rationalisten

Ähnlich argumentiert der amerikanische Biologe Jared Diamond in seinem jüngsten Werk Collapse (2005; deutsch: Kollaps, Frankfurt 2005), in dem er untergegangene Zivilisationen analysiert und Rückschlüsse auf die Gegenwart zu ziehen versucht. Die ökologischen Probleme dieser Welt werden auf jeden Fall gelöst werden, meint er, „die Frage ist nur, ob es eine angenehme, von uns selbst gewählte Lösung sein wird, oder ob sie unangenehm sein wird und nicht unserer Entscheidung entspringt, ob es also beispielsweise zu Kriegen, Völkermord, Hungersnöten, Krankheitsepidemien und Zusammenbrüchen von Gesellschaften kommt.“ (S. 615).

Fundamentalisten in die Schranken weisen

Endzeitstimmung herrscht unter Rationalisten wie unter Antirationalisten, unter religiösen Fundamentalisten wie auch unter einigen besonders bedeutenden ihrer wissenschaftlichen Kontrahenten. Mir scheint, die einzige Chance eines Entkommens besteht darin, dass wir den religiösen Fundamentalisten strikte jeden Anspruch auf Mission, auf Mediendominanz und Beherrschung des öffentlichen Raumes verweigern. Nur die konzentrierteste Anwendung aller uns zur Verfügung stehenden Kräfte der Vernunft auf die erkennbaren Probleme enthalten eine Chance zu ihrer Lösung. Es ist möglich, dass unser Gehirn dafür nicht ausreicht, wie Martin Rees meint. Aber der Rückzug auf antike Prophezeiungen und Mythologeme enthält nicht einmal einen Anflug einer Problemlösung. Hingegen ist es möglich, dass wir noch immer nicht die richtigen Fragen stellen, die wirklich zentralen Probleme noch immer nicht erkannt haben.

Der Grossteil unserer wissenschaftlichen Untersuchungen richtet sich auf Eigenschaften, Strukturen, Abläufe von Teilen der äusseren Welt. Uns selbst, die wir diese Welt immer gewalttätiger, immer grossflächiger und immer folgenreicher manipulieren, machen wir – trotz Freuds epochalen Entdeckungen der unserem Verhalten zugrunde liegenden Seelenstrukturen – noch immer nur ungern zum Thema unserer Untersuchungen. Wir blicken ungern in einen Spiegel, der uns unangenehme Aspekte von uns selbst zeigen könnte. Dabei könnte etwas mehr Furchtlosigkeit in dieser Hinsicht möglicherweise zu den archimedischen Punkten führen, von denen aus unsere eigenen aggressiven und destruktiven Neigungen – als die grössten unter allen Gefahren – unter Kontrolle gebracht werden könnten. Statt fundamentalistischen Heils- oder Unheilserwartungen sind wieder einmal wissenschaftliche Nüchternheit und Rationalität gefragt, vor allem in Anwendung auf uns selber. Die jüngste Wiederentdeckung der Gefühle – auch am Collegium Helveticum – und die schrittweise Bestätigung der Hypothesen der Psychoanalyse durch die Hirnforschung könnten dafür Ausgangspunkt sein.


Zum Autor

Kurt R. Spillmann hat in der Schweiz die Analyse von Konflikten und deren Ursachen geprägt wie keiner vor ihm: als Professor, Autor und Experte in der Öffentlichkeit. 1986 zum ETH-Ordinarius für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung an die ETH berufen, gründete und leitete er die Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse (FSK). Er initiierte zudem die Schaffung des Center for Comparative and International Studies (CIS), eines Clusters von heute zehn Professuren, der die entsprechenden Kompetenzen von ETH und Universität bündelt. Lange Jahre war er, der im Militär den Rang eines Obersten bekleidete, Vorsteher der Abteilung für Militärwissenschaften. Daneben hat Spillmann Wichtiges als Berater geleistet: So hat er seinen nicht unwesentlichen Teil dazu beigetragen, dass die Schweizer Sicherheitspolitik sich in den neunziger Jahren modernisierte und öffnete. Seit seiner Emeritierung im Jahr 2002 hat er nun mehr Zeit, seinen besonderen Interessen zu nachzugehen: Den psychologischen und gesellschaftlichen Hintergründen von Krieg und Frieden zum Beispiel, den interdisziplinären Zusammenhängen zwischen Ökologie und politischen Konflikten – insbesondere Wasserkonflikten –, und der Nachwuchsförderung.






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