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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 20.12.2006 06:01

Schattenseite der Life Sciences

Andreas Wenger

Kaum eine Gefahr beschäftigt die internationale Gemeinschaft derzeit stärker als das Szenario einer natürlichen oder absichtlichen Verbreitung von Mikroorganismen, die übertragbare Krankheiten erzeugen können.

Vor fünf Jahren führte die Versendung von mit Anthrax-Sporen versehenen Briefen in den USA im Dunstkreis der Anschläge des 11. September 2001 zu fünf Toten, zu Tausenden von Nachahmungstätern und zu hysterischen und folgenreichen Reaktionen in der Politik – zumal in der Forschungspolitik. Zudem machen periodische Ausbrüche von Maul- und Klauenseuche, von Rinderwahnsinn sowie von bisher unbekannten Viren wie SARS und H5N1 breiten Kreisen die Gefahren bewusst, welche von Mikroorganismen ausgehen können.

Eigentlich handelt es sich dabei um eine Jahrhunderte alte Herausforderung, mit welcher umzugehen die Gesellschaften gelernt haben. Doch drei Entwicklungen verleihen Biorisiken heute eine neue Dimension: 1. Die zunehmende Mobilität von Menschen, Tieren und Gütern im Zuge der Globalisierung; 2. Die raschen Fortschritte in den Biowissenschaften und die Verbreitung biotechnischer Verfahren und Applikationen; 3. die Intensivierung des globalen Terrorismus und Hinweise darauf, dass al-Qaida versucht hat, Biowaffen zu beschaffen.

Seit 9/11 und den Anthrax-Briefen wird in den USA die bioterroristische Gefahr als zentrale Herausforderung der nationalen Sicherheit wahrgenommen. In Washington vertraten namhafte Regierungsvertreter die Sichtweise, dass Universitätsabgänger mit limitierter Expertise mit Anleitungen vom Internet in improvisierten Garagenlabors Biowaffen bauen könnten – eine Sichtweise, die die technischen Hürden bei der Herstellung und kontrollierten Aussetzung von Biowaffen unterschätzt. Ohne staatliche Hilfe werden sich nichtstaatliche Akteure die Kompetenz zur Durchführung von Sprühangriffen auf absehbare Zeit kaum aneignen können. Wahrscheinlicher als solche Katastrophenszenarien sind low-scale Attacken mit traditionellen Kampfstoffen, die allerdings durchaus ernsthafte psychologische, soziale und wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen können.

Am Beispiel der USA lässt sich zeigen, wie eine einseitige Ausrichtung der nationalen Bioabwehr auf wenig wahrscheinliche bioterroristische Katastrophenszenarien zu unerwünschten Nebeneffekten führen kann. Eine Überreaktion kann unnötige Kosten nach sich ziehen: Erstens kann so das Interesse terroristischer Akteure an Biowaffen überhaupt erst angefacht werden. So besteht Grund zur Annahme, dass das Interesse von al-Qaida an Biowaffen im Zusammenhang mit Medienauftritten amerikanischer Regierungsvertreter entstanden ist. Als Folge des massiven Ausbaus der staatlichen Bioabwehrprogramme und der Ausweitung der Geheimhaltungspflichten in den Biowissenschaften erhöht sich zweitens das Risiko eines unbeabsichtigten Transfers von Expertise und/oder Material aus staatlichen und privaten Sicherheitslabors – die Anthraxbriefe sind hierzu das beste Beispiel. Drittens kann eine übersteigerte Bedrohungswahrnehmung fragwürdige politische Prioritätensetzungen nach sich ziehen: Ressourcen, die in die Abwehr einer überbewerteten bioterroristischen Bedrohung fliessen, fehlen bei der Bewältigung einer natürlichen Pandemie. Expertise und Geld, das in die nationale Sicherheit fliesst, fehlen im Bereich des Gesundheitswesens, der Forschung und des Bevölkerungsschutzes. (1)

Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass jährlich mehr als 14 Millionen Menschen natürlichen Infektionskrankheiten wie AIDS, Tuberkulose und Malaria zum Opfer fallen, während insgesamt nur eine sehr kleine Anzahl absichtlicher Verbreitungsversuche von Biowaffen durch nichtstaatliche Akteure bekannt ist, dann wird deutlich, dass bei der Formulierung von Politiken zur Bewältigung von Biorisiken besser von einem „all-hazards“ Ansatz ausgegangen werden sollte, der auf einen umfassenden Schutz der Gesellschaft ausgerichtet ist, unabhängig davon, ob die Biorisiken von Staaten, nichtstaatlichen Akteuren oder von der Natur ausgehen.


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Andreas Wenger, ETH-Professor für schweizerische und internationale Sicherheitspolitik und Leiter des Center for Security Studies an der ETH.

Ein erfolgreiches Management von Biorisiken stellt öffentliche, private und internationale Akteure auf allen Ebenen der Politik (lokal, national, international) vor komplexe Probleme. Die meisten dieser Herausforderungen weisen einen multidisziplinären Charakter auf und tangieren so verschiedene Politikbereiche wie das Gesundheitswesen, den Bevölkerungsschutz, das Krisenmanagement, die Forschung und Bildung, das Polizeiwesen, die Nachrichtendienste und die Armee, den Umweltschutz und die Exportkontrollen, etc.

Ein umfassender Ansatz beim Schutz unserer Gesellschaften vor einer natürlichen oder absichtlichen Verbreitung von Viren und Bakterien ist nicht nur kostengünstiger, sondern auch politisch nachhaltiger als ein getrenntes Vorgehen im gesundheits-, respektive im sicherheitspolitischen Bereich. Ein solcher Ansatz stellt aber nicht nur die lokalen, nationalen und internationalen politischen Institutionen vor umfassende Koordinations- und Kooperationsherausforderungen. Er erfordert auch die aktive Mitwirkung der Wissenschaft und Industrie in den Bereichen der Grundlagenforschung und der angewandeten Forschung. (2)


Andreas Wenger

Sein Forschungsgebiet bewegt die Welt – heute mehr denn je. Andreas Wenger beschäftigen die Sicherheit und die politischen Institutionen und Prozesse, die dazu führen sollen. Und die Konflikte, die zeigen, dass Sicherheit immer ein gefährdetes Gut ist. Als ETH-Professor für schweizerische und internationale Sicherheitspolitik leitet Andreas Wenger das Center for Security Studies (CSS). Mit über 60 Mitarbeitenden ist es eines der grossen Zentren der ETH und weit über Uni und ETH hinaus vernetzt. So betreibt es im Auftrag des Bundes und in Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Partnern das International Relations and Security Network (ISN), eine elektronische Netzwerkinitiative, die den sicherheitspolitischen Forschungsdialog fördert.

Bei längeren Forschungsaufenthalten in Yale, Princeton und kürzlich wieder in Washington hat sich Wenger vertieft mit aktuellen Fragen der internationalen Sicherheitspolitik auseinandergesetzt. Schwerpunkte seiner Forschung sind die transatlantischen Beziehungen sowie die amerikanische und russische Aussen- und Sicherheitspolitik. Dazu kommt die europäische Sicherheitsarchitektur sowie die Aussen- und Sicherheitspolitik der Schweiz. In Schweizer Medien ordnet er als Experte regelmässig Ereignisse fürs grosse Publikum in die sicherheitspolitische Landschaft ein – eine Aufgabe, die er nicht nur gern übernimmt, sondern auch als selbstverständlichen Bestandteil seines Jobs ansieht: „Unser Wissen und Know-how soll nicht aufs Akademische beschränkt bleiben. Es in die politischen Prozesse einfliessen zu lassen und der Bevölkerung zu vermitteln, ist Reiz und Herausforderung zugleich.“




Fussnoten:
(1) Siehe dazu Andreas Wenger / Reto Wollenmann. Bioterrorism: Confronting a Complex Threat (Boulder: Lynne Rienner, 2007). www.rienner.com/viewbook.cfm?BOOKID=1616&search=wenger
(2) Anfang 2007 erscheint an der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik das „International Biodefense Handbook“, welches Politikansätze und organisatorische Strukturen zur Abwehr biologischer Gefahren von 7 Staaten und 5 Internationalen Organisationen erfasst und analysiert. Dabei zeigt sich, in welchen Teilbereichen Anstrengungen getätigt werden und in welchen weiterer Handlungsbedarf besteht. Das Handbuch wird Ende Februar 2007 auf www.crn.ethz.ch/ verfügbar sein.



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