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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 12.06.2002 06:00

Abschied vom Collegium Helveticum

Helga Nowotny

Ende September ist es so weit - ich werde von der ETH emeritieren. - In zehn, fünfzehn Jahren wird man auch in Europa auf Grund der demographischen Entwicklung die Lebensarbeitszeit verlängern müssen, doch das steht auf einem anderen Blatt. - Das Collegium Helveticum wird von Peter Rieder, dem von der Schulleitung ad interim bestellten Leiter, übernommen. Da dies meine letzte Kolumne ist, nütze ich sie, um mich in eigener Sache zu Wort zu melden.

Mit der Gründung des Collegium Helveticum hat die ETH vor fünf Jahren eine kleine, aber weltweit einmalige Institution geschaffen, deren Wert sie allerdings nicht immer oder noch nicht zu schätzen weiss. Das Collegium – und das unterscheidet es wesentlich von den Institutes of Advanced Study wie etwa dem Wissenschaftskolleg zu Berlin - ist mit seinem interdisziplinären Graduiertenkolleg in erster Linie für junge, talentierte Menschen da und nicht für bereits etablierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Die wissenschaftlichen Gäste des Collegiums haben, im Gegensatz zu den Fellows an einem Wissenschaftskolleg, auch die Verpflichtung, öffentliche Lehrveranstaltungen abzuhalten. Die Gäste aus Kunst und Literatur beteiligen sich in anderer, angemessener Weise am intellektuellen Leben des Collegiums. Während ihres zweisemestrigen Aufenthalts arbeiten die Kollegiaten und Kollegiatinnen sowohl an ihrer eigenen Dissertation oder einem postdoktoralen Forschungsprojekt, als auch an einem, ihre unterschiedlichen Zugänge verknüpfenden, gemeinsamen Projekt. Die besondere Atmosphäre am Collegium macht eine intensive Auseinandersetzung mit dem unterschiedlichen disziplinären Hintergrund, methodologischem Selbstverständnis und Einbettung der eigenen Arbeit in einen grösseren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext unumgänglich. So erfährt der ‘globus intellectualis’, von dem die frühe Neuzeit sprach, mit jedem Jahrgang am Collegium eine Neuauflage en miniature - Aufteilung und Schnittstellen der wissenschaftlichen Sichtweise werden jeweils anders zusammengesetzt.

Die Arbeit mit den Kollegiatinnen und Kollegiaten, die aus den verschiedensten Disziplinen kommen, war für mich immer wieder aufregend und eine Herausforderung.


Zur Person

"Tolle Arbeitsbedingungen und eine internationale Atmosphäre, die in Europa ihresgleichen sucht", umschreibt Helga Nowotny die Trümpfe der ETH. Seit 1995 ist sie, die in Wien Jura und an der Columbia University Soziologie studierte und später an der Wiener Uni das Institut für Wissenschaftstheorie leitete, Professorin für Wissenschaftsforschung und -philosophie an der ETH. Und seit 1998 führt sie als Nachfolgerin von Adolf Muschg das Collegium Helveticum in der Sternwarte, den schweizweit einmaligen Think Tank, der die Forschung sich selbst zum Thema werden lässt. "Die Forschung muss raus aus den Labors, wenn sie sich von der Gesellschaft nicht entfremden will", lautet eine ihrer Kardinalbotschaften. Ihre Mitbegründung der Stiftung "Science et Cité" ist sichtbares Zeichen dafür. Eine weitere ihrer Botschaften: "Wissenschaft muss sich politisch einmischen". Auch dafür liefert Helga Nowotny gleich selbst das Beispiel: Im September 2001 wurde sie in den Rat der Weisen des EU-Forschungskommissars Philippe Busquin berufen.




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Nowotny
Helga Nowotny, Professorin für Wissenschaftsforschung an der ETH und Leiterin des Collegium Helveticum. gross

Die ETH hat dem Collegium Helveticum dafür einen einmaligen Ort und einen institutionellen Freiraum zur Verfügung gestellt, in dem international und mit grosser Offenheit experimentiert und hart gearbeitet, reflektiert und miteinander gesprochen werden kann - über Modelle, Metaphern und Moral, wenn man es kurz ausdrücken will (und unter Moral eine normative Standortbestimmung von Wissenschaft und Technik in einer sich globalisierenden, von Unsicherheit geprägten Welt versteht).

Seit seiner Gründung zählt das Collegium Helveticum an die vierzig Kollegiatinnen und Kollegiate. Gewiss, keine beeindruckende Zahl. Und nur etwa die Hälfte kam von der ETH. Ein offenes, gastfreundliches Haus zu führen, mit Gästen aus Wissenschaft, Literatur und Kunst und einem breiten Spektrum international besetzter Symposien und sonstigen Veranstaltungen, mag eine schöne Sache sein, doch was hat es den ETH-Angehörigen gebracht, wenn neben dem Wissenschaftsalltag die Zeit und die Neugier nicht vorhanden sind, das Potential solcher möglichen Begegnungen zu nützen? Das Ziel einer selbstverständlichen Einbindung in die ETH ist bislang zweifellos noch nicht erreicht worden.

Dazu braucht es allerdings vermehrt viele, auch unterschiedlichste Kräfte, die bereit sind, sich auf inhaltlich fruchtbare Auseinandersetzungen über die Dynamik der wissenschaftlich-technischen Entwicklung, ihre gesellschaftliche Einbettung und über die Rolle von Kunst und Literatur einzulassen. Ziel des CH muss deshalb weiterhin sein, dass es nicht ausserhalb, neben oder an einer technischen Forschungsuniversität besteht, sondern Teil davon wird. Neben der Unterstützung durch die ETH-Leitung bedeutet dies allerdings auch eine grössere Bereitschaft seitens der Professorenschaft, sich auf das Ungewohnte einzulassen.

Schon nach kurzer Zeit ist das Collegium Helveticum auf eine durchwegs positive Resonanz in der Öffentlichkeit gestossen. Die Bereitschaft der Öffentlichkeit, das Gespräch in der angebotenen Dialogform zu suchen und ihr Interesse an Wissenschaft und Technik zu zeigen, ist - so scheint es jedenfalls - dringender als das Bedürfnis der Wissenschaft nach einem Dialog zwischen den Disziplinen oder mit der Gesellschaft. Im Finden einer gemeinsamen Ebene der Verständigung hat sich der Einbezug von Kunst und Literatur sehr bewährt.

Meine Bilanz hält fest: das Collegium Helveticum hat nach fünf Jahren sicher noch nicht alle seine Ziele erreicht, vor allem nicht jenes, einer gelungenen Einbindung in die ETH. Vielleicht braucht es dazu mehr Zeit. Vielleicht braucht es jedoch noch mehr den Mut, die Grundlagen, die den bisherigen Erfolg von Wissenschaft und Technik ermöglicht haben, im Kontext der gegenwärtigen und sich beschleunigenden gesellschaftlichen Veränderungen neu zu denken.




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