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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen


Science City und Science Village

Published: 25.10.2006 06:00
Modified: 24.10.2006 11:47
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René Schwarzenbach

13. September 2006, 12:15, MaturandInnentag an der ETH. Mit grosser Selbstzufriedenheit, wie es sich für einen ETH-Professor ziemt, will ich den Hörsaal verlassen. Kein Zweifel, falls sie es nicht schon waren, sind die etwa 60 Maturandinnen und Maturanden jetzt restlos davon überzeugt, dass ein ETH-Studium in Umweltnaturwissenschaften das höchste der Gefühle ist. Dann die Ernüchterung. Einer dieser im Hörsaal im Kollektiv etwas eingeschüchtert wirkenden jungen Leute, der aber beim näheren Hinsehen eine ganze Portion Schalk in den Augen hat, kommt auf mich zu. Herr Professor! Da haben Sie uns ja schon ein bisschen etwas vorgegaukelt, oder etwa nicht? Dieses schöne Gerede über das, was Sie “Science Village” an der ETH nennen? Wo sich die Dozierenden nicht als Lehrmeister, sondern als Coaches der Studierenden verstehen. Wo der Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten wichtiger ist als die reine Anhäufung von Fachwissen. Wo sich Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft begegnen. Wo soziale Kompetenz nicht nur ein modisches Schlagwort ist. Und wo Doktorierende und Assistierende nicht als Forschungssklavinnen und -sklaven, sondern als eigenständige junge Kolleginnen und Kollegen betrachtet werden. Dort wo - wie Sie sagen - neben der fachlichen Ausbildung die Persönlichkeitsentwicklung ein zentrales Element des Studierens und Doktorierens ist. Hören Sie, dieses idealisierte Bild das Sie da von Ihrem ”Science Village” malen, entspricht so ganz und gar nicht dem Bild, das ich bis jetzt von der ETH bekommen habe.

Und da ich ihn nicht unterbreche, fährt er fort. Alles was ich über die ETH höre und lese, dreht sich doch ausschliesslich immer nur um “Science City”. Wo alles auf Spitzenforschung und auf möglichst hohes internationales Ranking getrimmt zu sein scheint. Wo man an jeder zweiten Strassenecke einen Nobel- oder anderen Preisträger antreffen kann. Und wo nur die weltbesten, falsch, nur die weltallerbesten Studierenden und Doktorierenden zuhause sind. Von den Normalstudierenden redet nie jemand. Schauen Sie, mein Problem ist, dass ich eigentlich nicht so genau weiss, was einen weltallerbesten Studierenden ausmacht. Meine Noten in Mathematik, Chemie und Physik sind zwar schon o.k., aber eben nicht Spitze. Ich habe auch noch viele andere Interessen und dann ist da noch mein Nebenjob im Gastgewerbe. Da bin ich mir gar nicht sicher, ob die ETH der richtige Platz für mich ist. Meiner Freundin da drüben geht es übrigens genau gleich. Dann hält er inne und schaut mich wieder mit diesen etwas verschmitzten Augen an.

Hoppla! Da ich aber an der ETH gelernt habe, auch zu reden wenn ich eigentlich sprachlos bin, suche ich postwendend nach einer Antwort. Natürlich mit dem nötigen professoralen Wohlwollen in der Stimme. Aber es kommt mir im Moment nichts Gescheiteres in den Sinn als der Spruch “Ohne Breitensport kein Spitzensport”, und der passt ja nicht so ganz auf die ETH, denn wir wollen ja keinen Breitensport sondern breiten Spitzensport, oder nicht? Und dass die ETH ganz verschiedene Sportarten anbietet, die ganz unterschiedliche Fähigkeiten verlangen. Und dass es Einzel- und Mannschaftsportarten gibt. Und dass die Latte an der ETH eben hoch liegt, dass das aber nicht ausschliesslich etwas mit guten Noten in der Schule zu tun hat. Wie auch immer, bevor ich mich dazu äussern kann, hat sich der junge Mann bereits Richtung Mensa aus dem Staub gemacht. Und meine Selbstzufriedenheit ist verschwunden. Aber das ist gut so, denn es veranlasst mich, an dieser Kolumne weiterzuschreiben.

Falls es da oder dort vor lauter Rankinggeschrei in Vergessenheit geraten sein sollte: Die ETH ist eine führende europäische Hochschule mit einem nationalen Bildungsauftrag. Für mich heisst das, dass das wichtigste Produkt der ETH ihre Absolventinnen und Absolventen sind. Im Idealfall: verantwortungsbewusste, kompetente junge Leute die sowohl fachlich wie menschlich fit sind, um auf dieser Welt Führungs- und, auch wenn es abgedroschen tönt, Vorbildfunktionen einnehmen zu können. Um das zu erreichen, braucht es an der ETH in allen Bereichen eine gesunde Mischung aus “Science City” und “Science Village”. Man könnte dieses Gebilde ja liebevoll “Science Town” nennen. Als naiver, unerschütterlicher Positivist, ein Attribut das ich von einigen meiner Kollegen in letzter Zeit immer häufiger erhalte, will ich ja gerne glauben, dass “Science Town” an der ETH bereits allgegenwärtig ist. Nur manchmal beginne ich wieder ein bisschen daran zu zweifeln, wenn ich zum Beispiel höre, dass Doktorierenden in einer Gruppe verboten wird, wegen Zeitverschwendung ausserhalb des Labors am Morgen Kaffee miteinander zu trinken, oder wenn eine Doktorandin einen Ferientag nehmen muss, um eine Probelektion zur Erlangung des didaktischen Ausweis zu absolvieren, oder wenn der gute Herr Professor darauf besteht, gegen den Wunsch seiner MitarbeiterInnen Erstautor auf den Publikationen zu sein, oder, oder, oder ….

René Schwarzenbach, Vorsteher des Departements Umweltwissenschaften, ist derzeit 'ETH Life'-Kolumnist.

Und dass es sogar Doktorierende geben soll, die in ständiger Angst vor ihrem Professor leben. Es sollte doch offensichtlich sein, dass die Doktorierenden in jeder Beziehung das Herzstück der Forschung an der ETH bilden. Aus ihrem Kreis werden auch zukünftige Professorinnen und Professoren hervorgehen, welche dann in ihrem Wirkungsfeld die Kultur der Lehrens und Lernens beeinflussen, ja bestimmen werden. Da will es mir so ganz und gar nicht einleuchten, dass das so erfolgreiche Rezept der Musketiere da und dort an der ETH zu “Alle für Einen und Einer für sich selbst” mutiert zu sein scheint. Aber das sind ja Gott sei Dank immer noch Ausnahmefälle, obwohl unser bestehendes Wert- und Wertschätzungssystem vielleicht gerade solche Mutationen fördert. Mehr zu diesem Thema in einer meiner nächsten Kolumnen.

Bleibt noch die gegenwärtig die Gemüter bewegende und erregende Frage wie und in welchem Stil die ETH in Zukunft zu regieren sei. Wer, wie dies auch der ETH-Rat im Moment zu tun scheint, ausschliesslich auf “Science City” setzt, kann mit einem starken Top-Down Management im heutigen politischen Umfeld vielleicht sogar kurzfristige (Schein-?)Erfolge feiern. Ob das aber längerfristig nicht nachhaltige negative Konsequenzen für eine Bildungsstätte wie die ETH hätte, ist ernsthaft zu prüfen. Das heisst aber nicht, dass der Status Quo heilig ist. Für “Science Town” 2020 muss, aus meiner Sicht, die optimale Lösung noch gefunden werden. Darüber wird ja im Moment sowohl offen als auch versteckt heftig diskutiert, aber, soweit ich es überblicke und auch hoffe, in einem für “Science Town” würdigen, fairen und konstruktiven Ton. Und vielleicht sollten wir uns dabei nochmals an die Musketiere erinnern. Die galten ja schliesslich als unschlagbar.

In etwa einem Jahr weiss ich dann übrigens auch, ob sich der junge Mann für unsern Studiengang entschieden hat. Falls ja, freue ich mich schon jetzt darauf, ihm die Hand zur Begrüssung in “Science Town” schütteln zu können. Und hoffentlich auch seiner Freundin. Ich bin sicher, bei der sitzt der Schalk noch viel tiefer in den Augen ….


Zur Person

Scheinbar verschlossene Türen aufzustossen, das behagt ihm: Der ETH-Umweltchemiker René Schwarzenbach arbeitet in einem Forschungsbereich, der erst Ende der 1960er-Jahre entstand. René Schwarzenbach beschäftigt sich mit der Verteilung, dem Schicksal und den Effekten von organischen Schadstoffen in der Umwelt. Als promovierter Chemiker Mitte der 70er-Jahre durch Zufall zum Thema gelangt, nahm er bald prägenden Einfluss darauf. Er kam über das Ozeanforschungsinstitut Woods Hole, Massachusetts zum Wasserforschungsinstitut Eawag und wurde dort schliesslich Direktionsmitglied (was er bis 2005 blieb). 1989 erhielt Schwarzenbach eine Professur für Umweltchemie im damals gerade erst gegründeten ETH-Departement Umweltnaturwissenschaften. Und er sorgte dafür, dass das neue Gebiet auch für die Lehre fruchtbar wurde: 1993 brachte er gemeinsam mit Philip Gschwend (MIT) und ETH-Professor Dieter Imboden das Lehrbuch „Environmental Organic Chemistry“ heraus. Besonders die zweite, stark erweiterte Auflage von 2003 sei das Standardwerk zu diesem Thema, heisst es immer wieder.

Die aktuellste Herausforderung, die René Schwarzenbach angepackt hat, ist die Leitung des Schulbereichs für Erde, Umwelt und Natürliche Ressourcen (S-ENETH), eines für die ETH neuartigen Verbunds dreier Departemente: Agrar- und Lebensmittelwissenschaften, Erdwissenschaften und Umweltwissenschaften. „Diese Kooperation eröffnet den Beteiligten inhaltlich wie institutionell ganz neue Möglichkeiten“, sagt Schwarzenbach. „Vieles von dem, was wir heute machen können, wäre ohne S-ENETH undenkbar oder zumindest äusserst schwierig zu realisieren.“



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