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ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 11.09.2002 06:00

Fortschritt und Scheitern

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Erwin Chargaff ist tot. Sein Nachruf stand im April dieses Jahres im Kulturbund des „Tages-Anzeigers“. Na und? Ich habe noch keinen seiner Filme gesehen, werden Sie sich sagen. Aber Chargaff war Biochemiker avant la lettre, ein Forscher, der mit seinen Entdeckungen um die Basenpaarungen in der DNA mithalf, das Tor zum Universum der Molekularbiologie aufzustossen. Wieso taucht der überhaupt auf die Kulturseite auf und nicht im „Wissen“-Teil? Dafür kann es gemäss dem Nachruf im „Tages-Anzeiger“ nur einen Grund geben. Er war dem Fortschritt gegenüber zutiefst pessimistisch eingestellt, ja verneinte ihn gar.

97 Millionen Franken erhielten die Forscher für das Nationalfonds- Schwerpunkprogramm Biotechnologie zusätzlich zu den ordentlichen Mitteln.Und was haben wir zurückbekommen? Den Golden Rice und eine Forschergilde, die uns weismachen will, das sei Fortschritt. Dabei wissen wir seit gestern, dass nicht einmal die Bauern in der Schweiz das genveränderte Saatgut anwenden wollen: sie sind für ein Moratorium, wie es die Genlex vorsieht. Da ist mir mein ehemaliger Studienkollege wesentlich lieber: Mit seiner Firma Prionics arbeitet und verdient er an einem Luxusproblem, dem Sicherheitsrisiko, das von Rindfleisch ausgeht für die reichen Menschen des Nordens. Die Prionenforschung ist nicht nur lukrativ - sie ist auch spannend. Ich glaube nicht, dass es dort ein Nachwuchsproblem gibt. Und sie ist direkt kommerzialisiert worden.

Die ETH würde sicher auch gerne eine solche Erfolgsgeschichte vorweisen. Statt dessen hören wir, Fortschritt sei in der Gentechnik ohne Freisetzungen von genmanipulierten Organismen nicht mehr möglich, und keiner wolle mehr diese Studienrichtung belegen, wenn nicht endlich stinkbrandresistenter Weizen freigesetzt werden dürfe. Meine Herren: das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein? Vor allem irritiert mich in dieser Sache, dass mir kein Unterschied mehr auffällt zwischen den Äusserungen der Gen-Suisse und der offiziellen Stimme der ETH. Bei mir entsteht der Eindruck, an der ETH würden alle Forschenden einhellig die schrankenlose Freisetzung befürworten und mit der Gen-Suisse zusammen die Abschaffung des BUWAL fordern, weil es Entscheide nicht so trifft, wie es ihnen gefällt (sondern eher einer 78-prozentigen Mehrheit unserer MitbürgerInnen).


Zur Person

Der 40-jährige Winterthurer Mathias Egloff hat an der Uni Zürich Zoologie studiert. Seine Welt waren jahrelang die Fische, genauer: der Barsch oder Egli. In seiner Dissertation ging es um das Überleben der Eglilarven und die Rolle, die der erste Vorgang der Schwimmblasenfüllung darin spielt. Sein Engagement für Umwelt- und Konsumfragen führte Mathias Egloff zum WWF: dort erstellte er den Schweizer Teil des “Water and Wetland Index", eine von Managementmethoden abgeleitete europaweite Erhebung über den Zustand von Gewässern und Feuchtgebieten. Weiter engagierte Egloff sich bei der Gründung der Labels „Marine Stewardship Council“ und „fair-fish“. Sein heutiges Wirkungsfeld sind die Systemdienste der ETH, wo er auf die Betreuung von Mac-Usern spezialisiert ist - und nicht weniger Herzblut investiert.




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Mathias Egloff gross

Wo sind die BiodiversitätsforscherInnen des Departements Umweltnaturwissenschaften, die auch unter dem kommerziellen Freisetzungs-Moratorium Risiko-Forschung machen möchten? Wer beschäftigt sich im D-AGRL mit Resistenz und findet es unnötig, ja schädlich, genverändertes, teures Hightech-Saatgut in Entwicklungsländern anzuwenden, wo es die bestehenden Probleme nicht dauerhaft löst, bestehende landwirtschaftliche Strukturen zum Gewinn der Agroindustrie bedroht und einen mentalitätsfremden und unintegrierten Ansatz verfolgt? Wer am D-GESS oder vom NADEL benennt die Vermessenheit der Industrienationen, die mit Hilfe von 97 Miliarden Dollar im Jahr ihre eigene landwirtschaftliche Überproduktion verbilligen, damit die Habenichtse in Afrika nicht etwa ihre Baumwolle oder ihren Zucker in den USA oder Europa verkaufen und sich endlich vom Hungerjoch befreien können?

Brauchen wir in diesem Umfeld Gentech-Baumwolle oder Gentech- Zuckerrüben? Und am wichtigsten: Wer von den Hirnforschern und Entwicklungsbiologen spricht sich einmal dagegen aus, dass man mit der Vorstellung von schrankenloser Forschungsfreiheit bei Null Haftung und maximalem Patentschutz der ganzen Gentechnik ein Glaubwürdigkeitsproblem verschafft? Wer mit der Glaubwürdigkeit unserer Forschung zeuselt, riskiert, dass man Fragen stellen wird wie: Wer bezahlt denn die Milliarden, die die Forschung kostet? Etwa die Agroindustrie?

Wenn die ETH mehr Geld braucht, ist sie auch bereit, sich mehr zu erklären? Eine Reihe von Firmen hat in jüngster Zeit enorme Imageprobleme bekommen, weil sie zwar erfolgreich Geld beschafften, dann aber unter gewaltigen Erwartungs- und Rechtfertigungsdruck kamen. Man braucht kein Chargaff zu sein, dem es mit seinen 97 Jahren leicht gefallen sein mag, jeden medizinischen Fortschritt zu leugnen, um zu erkennen, dass das Potenzial der Gentechnik für die Menschheit nicht in der Landwirtschaft liegt, sondern in all den vielen Disziplinen, wo sie problemlos akzeptiert wird. Manchmal frage ich mich, in welchem Bund des „Tages-Anzeigers“ ich am liebsten meinen eigenen Nachruf lesen würde. Ich glaube, es wäre „savoir-vivre“. Kein anderer Bund könnte so schön Fortschritt und Scheitern herüberbringen. Schade, dass ich mich mit Molekülen nicht so gut auskenne wie Erwin Chargaff.


Die ETH-Life-Kolumnisten äussern ihre private Meinung. Diese muss sich nicht mit der Haltung der Redaktion decken.




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