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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 02.11.2005 06:00

Die „Struktur des Raumes“

Von Gerd Folkers

„Dieser Mensch dort, Boerst, war mit dem Mond zusammengestossen.“ In Stanislaw Lems Helden, dem Piloten Pirx, festigt sich alle Imagination der Realität in den stabilen Strukturen, die Pirx erlebt. Das Besteigen der Raumkapsel, den Countdown, das erlösende Wort des Kommandeurs nach der geglückten Landung, die Fürsorge der Betreuer. Der anschliessende Schock, dass er nie die Erde verlassen, ein Simulationsexperiment überstanden hat und aufgrund seiner, eigentlich unerwünschten emotionellen Reaktion eben nicht „mit dem Mond zusammengestossen“ ist.

Strukturen erzeugen in trivialer Weise Zusammenhalt und Gewohnheit, unterstützen und lenken den Fluss der Gedanken. Architektur schafft mit ihren Strukturen katalytische Orte, sie braucht aber Stundenpläne und Ziele, um die Reaktanden zu versammeln.

So hat sich das Collegium Helveticum in der Semper’schen Sternwarte entlang von Stundenplänen und Aufgaben gefestigt. Der Dienstag ist ein „jour fixe“ im Semester. Zweiwöchentlich findet unsere öffentliche Vorlesung statt, die wir alternierend am Nachmittag mit den Studierenden vor- oder nachbereiten. Am Mittwochabend treffen wir uns zum Forschungskolloquium. Hier passiert Transdisziplinarität. Die Interpretation eines Textes stellt uns vor die Schwierigkeit, die Sprache und das Gedankengbäude des Anderen zu verstehen. Mein Gott, da sitzen Aliens einander gegenüber. Wie einfach hatte es noch die NASA mit der Plakette auf dem "Voyager": Adam und Eva, Grüsse von der Erde in Englisch und 54 weiteren Sprachen, Photographien eines Embryonen, von Leuten und Landschaften und ein Potpourri von U+E - Musik. (Kein Picasso übrigens, und keine mysteriöse mittelalterliche Dame mit dem Einhorn. Kein Lautenspieler von Caravaggio und nicht die vollendeten Ansichten des Fujijama.) War das eine Art unbewusster Meta-Hinweis darauf, dass unsere Technologie damals nicht ausreichte, um hohe Bildqualitäten auf der goldenen Grammophonplatte zu speichern? Liefert somit die Platte irgendwo Erkenntnisse darüber, wie schnell kulturelle Entwicklung auf der Erde stattfindet? (Oder war’s zu teuer?)

Im Forschungskolloquium gebraucht jemand das Wort „Körper“ und vor meinem geistigen Auge erscheinen Blutgefässe, Zellmembranen, ein Hirn, der Verdauungstrakt, Genitalien, Gesichter und eine deftige Mahlzeit (nicht immer in dieser Reihenfolge). Dann lerne ich, dass Nietzsche nie das Wort „Körper“ in diesem von mir gedachten Zusammenhang gebraucht hätte, höchstens als Metapher. Ein Experimentalphysiker verbindet damit vielleicht im Wesentlichen Newtons Bewegungsgleichungen, der Theologe etwas, wovon es uns zu erlösen gilt (nicht in allen Fakultäten). So lernt man die Denkstile der Aliens zu interpretieren und wird sehr vorsichtig im Gebrauch von umschreibenden Vokabeln und Metaphern, besonders wenn es sich um leichtfertige Entlehnungen aus anderen Disziplinen handelt. „Wenn mir gegenüber noch einmal jemand Schrödingers Katze erwähnt, greife ich zur Waffe“, scheint ein Standardspruch von Stephen Hawking zu sein.

Seien wir also auf der Hut. Strukturen und Gewohnheiten favorisieren auch Fehlinterpretationen. „Was nicht sein kann das nicht sein darf.“ Des Piloten Pirx’ häufigstes Problem ist das imperfekte Mensch-Maschine-Interface. Eine ganze Palette von Emotionen stört die stabilen Strukturen, aber orientiert sich auch gleichzeitig an ihnen. Strukturen nehmen die Angst, unterstützen die Kommunikation und schränken andererseits die Phantasie ein.


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Chemieprofessor, Leiter des Collegium Helveticum und derzeit "ETH Life"-Kolumnist: Gerd Folkers.

Deswegen rettet nur unkonventionelles Denken und Handeln dem phantastischen Helden Pirx, der in seiner rundlichen Figur und dem ewigen Babyface so gar nicht dem „imperialen“ Helden entspricht, in schöner Regelmässigkeit das Leben.

Da wir nicht alle „geniale Pirxe“ sind und die selbst gewählten Strukturen uns deswegen nicht nur helfen, sondern auch bedrohen, haben wir einen äusseren Beobachter postiert. Ein an sich sehr problematisches Modell. Denn, woher weiss der äussere Beobachter, was der innere Beobachter meint, fühlt, sagt, denkt? Und weiss er überhaupt, wie der innere Beobachter genau aussieht? Es muss vielleicht nicht nur eine Person sein. Unser äusserer Beobachter ist Psychologe. Zusammen mit seinem Mitarbeiter studiert er die Prozesse am Collegium. Wir haben einen Eingreifplan besprochen, regelmässige Interviews und Berichte, damit wir keinen Halluzinationen erliegen. Wie ändert das unser Verhalten gegenüber den Strukturen? Welche Austauschfrequenz mit dem Beobachter und welche Tiefe ist die richtige?

Wie Pirx in seinem Raumschiff scheinen wir mit uns selbst experimentieren zu müssen, um das alles zu einem guten Ende zu führen. Vielleicht dürfen wir uns auch nicht immer an die vorgegebenen Strukturen halten, um zu überleben.


Zum Autor

„Design“ ist für Gerd Folkers, der sich als ETH-Professor für Pharmazeutische Chemie dem Modellieren von Arzneistoff-Molekülen widmet, weit mehr als Schönheit, Eleganz und Spannung. Sondern ein funktionales Element: Was schön ist, füllt sich leichter mit Sinn. Und Augenfälliges erschliesst sich besser dem Be-Greifen. Gerade in seiner Lehre hat Folkers immer wieder unter Beweis gestellt, wie wichtig ihm das ist. Er scheute zum Beispiel keinen Aufwand, um seinen Studierenden komplexes Wissen via E-Learning verfügbar zu machen – mit Vorliebe auch dreidimensional. Zur Science gehört also Fiction: Es überrascht nicht, dass Gerd Folkers immer Wissenschaftsdiskurse interessiert haben. Als Hausherr am Collegium Helveticum habe er heute das Privileg, an der Klärung jener Fragen mitarbeiten zu können, die über das Spezialwissen hinausgehen. In diesem „grossen Experiment“ von Uni und ETH Zürich sei es seine Aufgabe, an sich nicht zur Interaktion vorgesehene Gebiete - und Menschen - so aufeinander abzustimmen, dass sie eben doch miteinander reagieren; „die klassische Rolle des Katalysators eben“, sagt dazu der Chemiker. Unter dem Generalthema „Emotionen“ sollen am Collegium nun in den kommenden Jahren Brücken über Disziplinen-Gräben geschlagen und neues Terrain betreten werden.






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