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Rubrik: News

Collegiums-Vorlesung: Schmerz bei Folteropfern
Nicht mehr heimisch in der Welt

Published: 16.06.2006 06:00
Modified: 16.06.2006 09:34
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(mb) Weil er sich politisch engagierte, wurde er inhaftiert, verhört und gefoltert. Nach seiner Entlassung floh der 36-jährige türkische Kurde in die Schweiz. Bei jedem Schritt hatte er Schmerzen, weil ihm seine Peiniger auf die blanken Fusssohlen geschlagen hatten, während er nackt auf dem Rücken mit verbundenen Augen, die Beine angehoben, auf den Boden liegen musste. Da ihm das Nasenbein gebrochen wurde, litt er lange unter Nasenbluten. In der Schweiz integrierte er sich zunächst gut. Doch als ihm die Arbeit gekündigt wurde, isolierte er sich, wurde aggressiv und driftete in die Armut ab.

Das ist nur eines der Beispiele, die Brigitte Ambühl Braun vom Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) vortrug. Im Zuge der Vorlesungsreihe „Schmerz – Perspektiven auf eine menschliche Grunderfahrung“ des Collegiums Helveticum sprach die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am 30. Mai über Ihre Arbeit mit Folteropfern.

Zwei von drei Staaten foltern

Foltermethoden umfassen eine ungeahnte Bandbreite: Von der körperlichen Folter über Deprivation wie Schlafunterbruch oder Nahrungsentzug, über sexuelle Folter vom verbalen Missbrauch bis zur Vergewaltigung bis hin zu psychologischen Methoden wie Drohungen gegen die Familie, Scheinexekutionen oder erzwungener Zeugenschaft. Laut SRK foltern zwei von drei Staaten. Die Methoden sind je nach Industrialisierung technisch ausgereifter.

Menschen, die solche traumatisierenden Erfahrungen machten, verändern sich, müssen eine neue Identität finden und neue Wertvorstellungen aufbauen. Der österreichische Schriftsteller Jean Améry, selbst Folteropfer im Zweiten Weltkrieg, nannte das treffend: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt“.

Traumatisiert, abgestumpft, angespannt, isoliert

Typischerweise drängen sich in Träumen und kurzen Flashbacks die Erinnerungen auf. Opfer fühlen sich emotional abgestumpft und gleichgültig. Sie sind viel sensibler, angespannt, schlaflos und schnell erschöpft. Aber auch Schmerzen treten auf, und Puls und Blutdruck sind erhöht. Sie laufen Gefahr, dass sie sich sozial isolieren und Süchten verfallen.

Vier von fünf Folteropfern leiden unter den körperlichen und seelischen Langzeitfolgen, der so genannten Posttraumatischen Belastungsstörung – zum Vergleich: nach Vergewaltigung sind es 55 Prozent, nach Verkehrsunfällen 15 Prozent, nach Naturkatastrophen 4 Prozent.


Letzte Veranstaltung der Ringvorlesung am Collegium: „Frida Kahlo – Malerin der Schmerzen“

Die Vorlesungsreihe „Schmerz – Perspektiven auf eine menschliche Grunderfahrung“ des Collegiums Helveticum spannte einen Bogen von den physiologischen Voraussetzungen der Schmerzempfindung, über medizinische Methoden der Schmerzbekämpfung bis zur künstlerischen Auseinandersetzung mit Schmerz.

Gast der letzten Veranstaltung ist die Kunsthistorikerin Madeleine Panchaud. Sie spricht über „Frida Kahlo – Malerin der Schmerzen“. Ort: Meridian-Saal in der Semper-Sternwarte, Schmelzbergstrasse 25, Zeit: Dienstag, 27. Juni, 19.15 bis 21 Uhr.

Ab Oktober 2006 ist eine zweisemestrige Vorlesungsreihe mit dem Titel „Gefühle zeigen. Manifestationsformen emotionaler Prozesse.“ Gäste werden unter anderem sein: ETH-Wissenschaftsforscher Michael Hagner, Psychologieprofessor Klaus Scherer (Universität Genf), der Pianist Gerhard Herrgott und die Tanzkritikerin Christina Thurner.

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Zeichnungen aus der Therapie: Der inzwischen 36-jährige Kurde wurde mit Elektroschocks gequält, seine Füsse wurden wund geschlagen und seine Hoden zerdrückt. Die Schmerzen qäulen ihn nach wie vor. (Bilder: Ambühl Braun)

Ein 55-jähriger Bosnier wiederum musste beobachten, wie eine Familie zusammengebunden und erschossen wurde. Ihn plagen Schuldgefühle, weil er nicht eingreifen konnte. Vor Wut möchte er manchmal platzen. Und er wünscht sich, sich neben seine Mutter ins Grab zu legen.

Brigitte Ambühl Braun erzählte noch von einem anderen Patienten: Ein 55-jähriger Bosnier habe in einem Internierungslager beobachten müssen, wie eine Familie zusammengebunden wurde und erschossen wurde. Bis heute plagen ihn Schuldgefühle. Lange Zeit wollte er nicht behandelt werden, weil auch er nicht geholfen hat. Er leidet unter anhaltenden Schmerzen, Depressionen und Aggressivität.

Therapie in kleinen Schritten mit vielen Mitteln

Die Arbeit der Therapeuten geht zwar nur in kleinen Schritten voran, ist aber in der Regel erfolgreich. Für beide Patienten waren 40 bis 60 Sitzungen mit unterschiedlichen Therapieansätzen notwendig, um ihre Situation zu verbessern. Zusammenfassend sagt Brigitte Ambühl Braun: „Es gelingt, dass sich die Patienten von ihrer Traumageschichte abgrenzen, Persönlichkeitsänderungen sind therapierbar und chronische Schmerzen oft auch.“

Das Berner Ambulatorium betreut seit elf Jahren Menschen, die durch Krieg oder Folter traumatisiert sind. Jahr für Jahr kommen rund 200 Patienten, die multidisziplinär behandelt werden – psychiatrisch, medizinisch, mit Physio-, Körper- und Bewegungstherapien oder Sozialarbeit.

References:
•  Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des SRK: www.redcross.ch/org/national/mig/ambu/index-de.php
•  Amnesty International, Hochschulgruppe Zürich: www.amnesty.unizh.ch


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