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Rubrik: News

Michael Hagner im Collegium Helveticum
Gender-Debatte mit Hirn

Published: 21.12.2006 06:00
Modified: 21.12.2006 09:27
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(sch) Im Januar 2005 äusserte sich Lawrence Summers, damals Präsident der Harvard University, Frauen seien vielleicht "genetisch einfach nicht so geeignet" für die wissenschaftliche Spitzenforschung. Getrieben von einem lauten Aufschrei in den Medien, trat er ein Jahr später zurück. Die vorherrschende „Political Correctness“ Amerikas und Europas war von Summers mit Füssen getreten worden. Eine Kontroverse zum Verhältnis der Gender-Studies zur Neuropsychologie war damit eröffnet.

Um dieses Verhältnis sollte es sich auch in Michael Hagners Vortrag im Collegium Helveticum handeln und die Anekdote diente ihm zur Eröffnung seiner Rede. Hagner ist Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich und befasste sich in seiner soeben vollendeten Gehirn-Trilogie einhergehend mit historischen Untersuchungen zur Hirnforschung. Dementsprechend näherte sich Hagner den Überzeugungen Summers und weiterer Neurowissenschaftler „aus der Tiefe des historischen Raumes“ heraus.

Inferiorität des weiblichen Gehirns

Hagner beschrieb das Gehirn als seit jeher mystifiziertes und “symbolisch kontaminiertes“ Objekt. Er erläuterte im Folgenden eine ganze Reihe von „wissenschaftlichen Entgleisungen“ und unzulässigen Verallgemeinerungen, die dazu dienten, patriarchalische Thesen zu den voneinander abweichenden Fähigkeiten von Männern und Frauen zu stützen. Bereits Franz Joseph Galls Organologie ging im frühen 19. Jahrhundert von der Verortung geistiger Fähigkeiten in bestimmten Arealen der Hirnrinde aus.

Als Gegenvorschlag unterbreitete der Psychologe Carl Gustav Carus mit seiner „Anatomie der Differenzen“ eine neue Dreiteilung des Gehirns und wies den männlichen und weiblichen Fähigkeiten klare Regionen zu. Seiner Meinung nach fanden sich in der hinteren Gehirnregion die primitiven Eigenschaften des Menschen. Und genau diese Region befand er bei Frauen und „Nachtvölkern“ (Afrikanern) als besonders ausgeprägt. Der vordere, bei Männern stärker ausgeprägte, Teil des Gehirns hingegen trug den Intellekt und die Vernunft. Diese Annahme fand grosse Verbreitung. Gelehrte wie Burdach, Huschke, Munk, Goltz und Gratiolet übernahmen in ihren Schriften diese Einteilung in ihren Grundzügen. Die damals vorherrschende These der „Infériorité des nègres“, also der Unterentwicklung von Afrikanern gegenüber Europäern, wurde auf eine Minderwertigkeit des weiblichen Gehirns gegenüber des männlichen ausgeweitet.

Anhand dieser Entwicklung zeigte Hagner wie die Theorien der Hirnforscher, mit welchen sie versuchten, Denken, Moral und Gefühle im Gehirn zu lokalisieren, zu keinem Zeitpunkt unabhängig von den kulturellen, sozialen und politischen Umständen entstanden, unter denen sie ihre Forschungen betrieben. In neuerer Vergangenheit waren diese Tendenzen bei der wissenschaftlichen Untermauerung von eugenischen Phantasien wie sie im Nazi-Regime oder bei den Bolschewisten betrieben wurden zu beobachten.

Von der Philosophie hin zur Biologie des Geistes - und wieder zurück. Michael Hagner bei der Entmystifizierung der Hirnfoschung.

Umgang mit dem Nichtwissen

Hagner spannte den Bogen in die Gegenwart, indem er neue Erscheinungen der „Cerebralisierung“ der Gesellschaft erläuterte. Diese käme gerade auch in der Diskussion zur Gender-Frage wieder zum Vorschein. Als Beispiel dazu zitierte er aus dem populärwissenschaftliche Buch“ The Essential Difference: The Truth About the Male and Female Brain „ des Cambridge-Psychologen Simon Baron-Cohen. Die darin vorgenommene Kategorisierung in ein empathisches und ein systematisches (die dritte Mischform kommt nach Cohen nur sehr selten vor) Gehirn und die klare Zuweisung dieser Kategorien zu Mann und Frau lehne er als zu stark pauschalisierend ab. Nicht in erster Linie die These, sondern die Masslosigkeit des im Buch vertretenen Erklärungsanspruchs erntete Hagners Kritik. Hier habe ein Wissenschaftler verlernt mit dem Nichtwissen umzugehen. Das Gehirn sei ein dermassen komplexes und in höchstem Masse lernfähiges Gebilde, dass Cohens einfache Einteilung der wissenschaftlichen Sorgfalt entbehre. Zudem würden damit die Errungenschaften einer emanzipatorischen Gesellschaft grundlegend missachtet und in Frage gestellt.

Hagner schloss mit dem Fazit, dass die Neurowissenschaften aufgrund fehlender eindeutiger Befunde und ihrer historischen Vorbelastung heute keinen fundamentalen Beitrag zur Gender-Diskussion leisten können. Gerade weil die Gesellschaft anfällig sei auf Simplifizierungen – Cohens Buch war ein Bestseller und wanderte durch sämtliche Medien – forderte er Wissenschaftler mit gegensätzlichen Meinungen dazu auf, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen. Alleine in Zürich kenne er drei Psychologen, die Cohens Werk als „absoluten Schwachsinn“ verurteilten, trotzdem hätten sie sich aber nie öffentlich dazu geäussert.

References:
•  Informationen zu Michael Hagner: www.wiss.ethz.ch/pfw/personen_hagner.html


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