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Rubrik: Science Life
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Publiziert: 09.01.2002 06:00

Schweizer Sicherheitspolitik 1945-2000
Im Korsett der Neutralität

Vor der Abstimmung im März über den Beitritt der Schweiz zur UNO geht es einmal mehr um die nationale "Gretchenfrage": wohin soll die Schweiz steuern angesichts des wachsenden Trends zu internationaler Integration? Ein Autorenteam der ETH-Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse beschreibt in einem neuen Buch Wurzeln und Entwicklung der Schweizer Sicherheitspolitik.

Von Norbert Staub

Die heutigen Gegner einer UNO-Mitgliedschaft operieren nicht zufällig mit einer alten sicherheitspolitischen Formel: "immerwährende Neutralität". Das Abseitsstehen von "fremden Händeln" genoss - und geniesst - in breiten Kreisen Zustimmung und hatte bis vor kurzem sogar identitätsstiftende Funktion: die Nation, die sich der Konfrontation der Blöcke entzog, konnte behaupten, sich gerade dadurch zum Musterland zu qualifizieren. Sicherheitspolitisches Denken ist einer der teils mehr, teils weniger bewussten Grundpfeiler des Schweizer Selbstgefühls.

Zeit für eine Gesamtdarstellung

In den letzten Jahren hat sich zwischen der eher multinationalen Sicherheitskonzepten zugeneigten Realpolitik und jenem Teil der Bevölkerung, der auf dem bisherigen Neutralitätskonzept beharrt, ein Zwiespalt entwickelt. Und nach dem 11. September 2001 ist das Nachdenken über die Sicherheit eines Landes sowie die Bedingungen und Mittel ihrer Herstellung einem breiteren Publikum zum Bedürfnis geworden.

Kein schlechter Zeitpunkt also für ein gut lesbares Überblickswerk, das an der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse der ETH Zürich entstanden ist und erstmals die Entstehung und Entwicklung einer schweizerischen Sicherheitspolitik von 1945 bis in unsere Tage beleuchtet.(1) Die Autoren Kurt R. Spillmann, Andreas Wenger, Christoph Breitenmoser und Marcel Gerber fokussieren auf die Verteidigungs- und die Aussenpolitik und weniger auf den Zivil- und den Staatsschutz oder die Wirtschaft. Sie gehen aus von der sicherheitspolitischen "Stunde Null" nach dem Zweiten Weltkrieg, als auf den gemeinsamen Kampf gegen Hitler sehr schnell die neue Konfrontation des Kalten Krieges zwischen den Blöcken Ost und West folgte.

Isolation als Prinzip

Die kriegsverschonte Schweiz fand ihre Rolle in der, wie die Verfasser schreiben, "Zementierung des Sonderfalls". Das mag erstaunen, formierten sich doch mit den Vereinten Nationen und der beginnenden europäischen Einigung gleich zwei starke kooperative Strukturen, die dem Schweizer Alleingang diametral widersprachen. Dass dieser dennoch gelang, sei der Tatsache zuzuschreiben, dass "der Ost-West-Gegensatz sich rasch lähmend auf die UNO auswirkte", heisst es in der Studie.

Die Schweizer Nischen-Position wurde sogar aufgewertet, indem die "Guten Dienste" der Schweiz als Vermittlerin in der bipolaren Welt wieder gefragt waren. Und was die europäische Integration betraf: Hier bildete nicht nur der Eiserne Vorhang, sondern auch die Gründung der NATO lange Jahre einen Hemmschuh für einen Zusammenschluss: denn alle neutralen Länder Europas blieben dem nordatlantischen Sicherheitspakt fern.

Vordergründig gab es in den 50er und 60er Jahren also keinen Anlass, die "bewährte" Politik aufzugeben, die der Idealvorstellung entsprach, wonach die Schweiz den Verheerungen des Weltkriegs (nur) wegen ihrer bewaffneten Neutralität entronnen war. War sie ursprünglich reines politisches Mittel, wurde sie in dieser Phase zu "einem eigenständigen Zweck der schweizerischen Aussenbeziehungen überhöht" – und dadurch zum engen Korsett, das nur wenig Handlungsspielraum liess, resümieren die Autoren.


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Mauer Berlin
Der Eiserne Vorhang liess nicht nur die Beziehungen Ost-West, sondern auch auch die Schweizer Sicherheitspolitik erstarren: Die Berliner Mauer in den achtziger Jahren. gross

Davon klar unterschieden blieb das wirtschaftspolitische Verhalten: ohne die Bereitschaft, international zu kooperieren, hätte die von Exporten abhängige Schweiz bald vor gravierenden ökonomischen Problemen gestanden.

Perpetuierte Mutlosigkeit

Anfang der 70er Jahre hatte sich zwar die Einsicht gefestigt, dass Sicherheit langfristig nicht mit militärischer Abwehr gleichzusetzen ist, sondern den politischen und wirtschaftlichen Einsatz erfordert. Doch das nach wie vor gültige Isolationsprimat liess im sicherheitspolitischen Bericht 73 des Bundesrates nur eine vage und mutlose Formulierung zu, nämlich "... im Bereich der allgemeinen Friedenssicherung und Krisenbewältigung mehr als bisher tätig zu werden." So kam es zu einer, wie es die Autoren nennen, "Strategie ohne Aussenpolitik". In der Konsequenz wurde die Armee in den 70er und 80er Jahren "wesentlich gestärkt"; die Aussensicherheitspolitik erhielt dagegen wenig Aufmerksamkeit. Die Chance zum politischen Mitgestalten, die sich an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), wurde von der Schweiz kaum genutzt.

1989: Signal zum Aufbruch

"Erst das Ende des Kalten Krieges sandte ein überdeutliches Signal aus, um die fällige sicherheitspolitische Kurskorrektur einzuleiten", heisst es im Text. Innenpolitisch gab es im Herbst 1989 allerdings eine wichtige Koinzidenz: bei der Volksabstimmung über Abschaffung der Schweizer Armee sagten über ein Drittel der Abstimmenden Ja zur Initiative der "Gruppe für eine Schweiz ohne Armee" (GSoA). Das überraschende Resultat zeigte, dass sich in der Sicherheitspolititk "während Jahren ein enormer Reformdruck aufgestaut hatte".

Der Bundesrat setzte in der Folge klare Akzente in Richtung internationale Kooperation (etwa in der OSZE oder im Nato-Programm "Partnership for Peace" (PfP)). Der Sicherheitspolitische Bericht 2000 signalisierte unter dem Titel "Sicherheit durch Kooperation" den Willen der Regierung, von der autarken Verteidigung abzurücken. "Allerdings wurde diese Politik – zumindest teilweise – nicht vom Souverän getragen", so die Autoren.

Obsolete Neutralität?

Dieser Widerspruch zwischen dem Wünsch- und dem Machbaren trat im konkreten Fall Kosovo ab 1999 offen zutage: das Engagement von Schweizer Militärpersonal in der internationalen Friedenstruppe musste wegen der restriktiven Schweizer Gesetzgebung zunächst waffenlos erfolgen - für den Schutz waren österreichische Verbände verantwortlich. Nach einem hart geführten Abstimmungskampf genehmigte das Stimmvolk im Sommer 2001 eine Revision des Militärgesetzes.

Schritt für Schritt nähert sich die Schweizer Sicherheitspolitik heutigen Anforderungen an. Die Autoren denken die Entwicklug zu Ende: in einer echten Kooperations-Strategie habe die Neutralität künftig keinen Platz mehr. Eine Maxime, die sinnvoll war als Haltung gegenüber klar umrissenen zwischenstaatlichen Konflikten, sei im heutigen Europa unrealistisch geworden. Die Schweiz als "Antithese zu ihrer Umwelt" - diese Selbstsicht als Sonderfall bedürfe der grundlegenden Revision, um den neuen, unberechenbaren Risiken im europäischen und globalen Umfeld adäquat zu begegnen. Konsequentes Ziel könne nur eine "vollumfängliche Integration" in multinationale Strukturen sein.


Literaturhinweise:
Website der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse der ETH: www.fsk.ethz.ch

Fussnoten:
(1) Kurt R. Spillmann, Andreas Wenger, Christoph Breitenmoser, Marcel Gerber,Schweizer Sicherheitspolitik seit 1945. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2001, ISBN 3-85823-909-7



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