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Rubrik: Science Life
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Publiziert: 11.01.2005 06:00

TAICON: Neue Initiative zu Erforschung sozialer Interaktion
Netzwerke – geheimnisvolle Getriebe

Ein bekannt-unbekanntes Phänomen soll systematischer erforscht werden: das menschliche Kollektiv. Forschende der ETH und der Universität Harvard haben dazu TAICON aus der Taufe gehoben, die „Transatlantische Initiative zu komplexen Organisationen und Netzwerken“. Am 12. Januar 2005 fand an der ETH ihr erster Anlass statt.

Norbert Staub

Es gibt Dinge, von denen wir uns ein so eindeutiges Bild machen, dass erst der zweite Blick ihre wahre Vertracktheit offenbart. Ein solches Phänomen sind gesellschaftliche Gruppen. So glauben wir oft bald einmal bestimmen zu können, was den Kitt einer bestimmten Gemeinschaft von Menschen ausmacht. Wir massen uns zudem immer wieder an zu wissen, warum ein Kollektiv mit einem anderen harmoniert – oder wie es dazu kommt, dass es zwischen zwei Gruppen kriselt.

In Tat und Wahrheit basiert unser Wissen zumeist auf Einzelphänomenen wie dem Nordirland-Konflikt, Israel/Palästina, oder, um ein Erfolgsmodell für ein Staatsgebilde mit mehreren „Nationalitäten“ zu nehmen: der Schweiz. Für den individuellen Fall mögen die Gründe für Funktion oder Dysfunktion jeweils greifbar sein: etwa die geschichtliche Entwicklung, ökonomische, kulturelle oder religiöse Frontstellungen. Es wäre jedoch ein Fehlschluss, in solchen Analysen auch gleich Gesetzmässigkeiten erkennen zu wollen.

Methodik: noch zuwenig universell

Es mag überraschen: Auch für die Sozialwissenschaften sind die Muster, nach welchen in der sozialen Welt gehandelt wird, oft umstritten, und es ist unklar, wie sie zusammenhängen. Es fehlt bisher eine verlässliche wissenschaftliche Methodologie, welche solche Interaktionen standardisiert. Die also dem Sand im geheimnisvollen Getriebe solcher Netzwerke auf die Spur kommt – oder dem Schmiermittel, das sie am Laufen hält. „Die Verfahren müssten zum Beispiel in der Lage sein, ohne den Halt, den das Denken in Ländergrenzen bietet, auszukommen – weil die Bedeutung dieser Grenzen im Zeitalter global aktiver Netzwerke rapide gesunken ist“, sagt Lars-Erik Cederman, seit 2003 an der ETH Professor für Internationale Konfliktforschung.


So fern und doch so nah

Anlässlich der ersten TAICON-Events an der ETH wird der New Yorker Soziologe Duncan Watts (Columbia University) am Mittwoch, 12. Januar 2005, 18 Uhr im ETH-Audimax (ETH-Hauptgebäude) die Geschichte und das machtvolle Wirken des „Small World“-Phänomens vorstellen („Six Degrees. The Science of a Connected Age.“ www.icr.ethz.ch/taicon/index). Watts hat ein Aufsehen erregendes Experiment aus den sechziger Jahren ins E-Mail-Zeitalter übertragen. 1967 hat der amerikanische Sozialpsychologe Stanley Milgram mit einem Kettenbrief-Versuch zu beweisen versucht, dass jeder Mensch über durchschnittlich sechs Stationen mit jedem beliebigen anderen Menschen in Verbindung treten kann. Die „small world“-These hat sich daraufhin bis ins populäre Denken verbreitet, wurde aber auch in von der Physik und Mathematik stark rezipiert. Watts konnte Milgrams Fazit in der Neuauflage des Versuchs via E-Mail und mit über 60'000 beteiligten Probanden bestätigen, bietet darüber hinaus aber eine physikalisch abgestützte Analyse der Arbeitsweise verschiedener Netzwerk-Typen. Der Anlass mit Duncan Watts ist öffentlich und wird direkt zum SHARE übertragen, dem Schweizer Wissenschaftskonsulat in Boston, USA (4). Danach wird ein Apéro offeriert.




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Hat die transatlantische Forschungssinitiative zu komplexen Netzwerken mit angestossen: Lars-Erik Cederman, ETH-Professor für Internationale Konfliktforschung.

Die Entwicklung solcher Methoden zu fördern, ist langfristig die Absicht von TAICON (1), einer Initiative mit neuen Ansätzen zur Erforschung komplexer Organisationen und Netzwerke. Angestossen wurde sie von Cederman und David Lazer, Politologie-Professor in Harvard (2). TAICON soll eine Plattform werden, wo drei Communities zusammenkommen: Komplexitätsforscher und Netzwerkspezialisten, Sozial- und Naturwissenschaften, sowie Forschende von beiden Seiten des Atlantiks. „Computermodelle erlauben heute, solch überaus komplexe Systeme wie soziale Cluster es sind, besser zu modellieren. Diese Chance müssen wir nutzen“, sagt Cederman, der mittels Computersimulationen unter anderem Entstehen und Zerfall von Staaten erforscht hat.

An der ETH beschäftigt sich auch Frank Schweitzer, seit 2004 Professor für Systemgestaltung am neuen Departement Management, Ökonomie und Technologie, mit der Erforschung komplexer Kollektive (3). Aktueller Forschungsschwerpunkt seiner Gruppe ist die Anwendung der Theorie komplexer Systeme auf die Dynamik von Organisationen. Auch Schweitzer legt – neben der Entwicklung formaler Konzepte – grossen Wert auf quantitative Modellierungen und Computersimulationen. Bei TAICON wird er sich mit engagieren.

Denken ohne Scheuklappen

Lars-Erik Cedermans Anspruch ist es, die abstrakten, wenig zielführenden Makro-Variablen wie etwa ‚Nation’ oder ‚Wirtschaftliche Lage’ zu relativieren, ohne die Sicht und das Interesse des Individuums zu stark zu gewichten. Grundlage der Analyse müssten grosse Mengen erhobener Detaildaten bilden. „Bausteine zu einem realistischen Bild über ein bestimmtes Gebiet können uns heute beipielsweise geografische Informationssysteme und die räumliche Statistik liefern“, meint Cederman. Doch unter Sozialwissenschaftlern gilt der Raum als wissenschaftliche Grösse bis heute als Hypothek: Denn für die NS-Ideologie war vermeintlich fehlender Raum eine der Triebfedern für die Vernichtungsfeldzüge im Osten Europas. Dessen eingedenk sei es jedoch an der Zeit, dieses für die Interaktion zwischen Gruppen fraglos bedeutsame Kriterium nicht mehr auszublenden, findet der Konfliktforscher.

Konflikte, Märkte, Verkehr

Raum, Zeit, (Gruppen-)Identität: die Erforschung sozialer Netzwerke werde unter diesen Schlüsselbegriffen noch eine Menge Arbeit vorfinden. Im Ergebnis könnte diese Forschung nicht nur Konfliktmechanismen ganzer Regionen wie des Kaukasus erhellen, sondern auch klären helfen, wie zum Beispiel Märkte oder Verkehrssysteme funktionieren, ist Cederman überzeugt. Zudem treibt ein Forschungs-immanenter Impuls den Vorstoss an: „Wir wollen dazu beitragen, den Graben zwischen tradiertem sozialwissenschaftlichem Vorgehen und den naturwissenschaftlichen Methoden zu schliessen“, so Cederman. TAICON: insofern auch ein Selbstversuch der wissenschaftlichen Community? „Ja“, meint der Mitinitiant, „und ich bin gespannt, wie er herauskommt.“


Fussnoten:
(1) Details zu TAICON finden Sie unter: www.icr.ethz.ch/taicon/background
(2) Mehr zu David Lazer unter: http://ksgfaculty.harvard.edu/David_Lazer
(3) Website des D-MTEC: www.mtec.ethz.ch/index_EN
(4) Website des Swiss House for Advanced Research and Education in Boston: www.shareboston.org/



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