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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 10.12.2001 06:00

Pläne des Warschauer Paktes aufgestöbert
Atomkrieg geübt

Wie wenig Wert die Neutralität eines Landes haben kann, zeigen jetzt Dokumente des Warschauer Pakts aus dem kalten Krieg, die kürzlich in Budapester Archiven gefunden wurden: Gemäss einer ungarisch-sowjetischen Stabsübung wären beim Schlagabtausch zwischen NATO und Ostblock Städte völlig zerstört und das neutrale Österreich zur Kapitulation gezwungen worden. ETH-Historiker sind an der Aufarbeitung dieses schwierigen Kapitels der europäischen Geschichte beteiligt.

Von Regina Schwendener

Seit Anfang der 90-er Jahre öffneten sich interessierten Historikerinnen und Historikern viele Archive in Osteuropa. Diese geben nun nach und nach auch militärische Dokumente über den Kalten Krieg preis. Diese stammen bisher vor allem aus der ehemaligen DDR, der Tschechoslowakei, aus Bulgarien und Ungarn. Bisher klassifizierte Dokumente zu einem Kriegsszenario des Ostblocks aus dem Juni 1965 wurden vor kurzem im Internet (www.isn.ethz.ch/php) veröffentlicht.

Nuklearer Schlagabtausch

„Wien, München, Verona und andere europäische Städte wären in den 60-er Jahren in einem Dritten Weltkrieg komplett zerstört worden“, kommentiert Christian Nünlist, Historiker an der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse der ETH (FSK), die jüngst gefundenen ungarischen Top-Secret-Dokumente. Die Beschreibung des nuklearen Schlagabtausches zwischen NATO und Warschauer Pakt innerhalb eines sowjetisch-ungarischen Kriegsspieles im Juni 1965 - minutiös dokumentiert - rufe die Bedrohung durch nukleare Waffen aus dem Kalten Krieg in Erinnerung.

PHP_Team.Atomkrieg
Christian Nünlist, die Professoren Vojtech Mastny und Andreas Wenger sowie Anna Locher (v.l.) am zweiten PHP-Workshop in Zürich. gross

Nünlist beschreibt die als Teil einer allgemeinen Offensive des Warschauer Pakts durchgeführte Stabsübung, deren Unterlagen ungarische Historiker im Rahmen des "Parallel History Project on NATO and the Warsaw Pact" (PHP) im Budapester Militärarchiv entdeckten, genauer: Um sieben Uhr morgens treffen 30 Nuklearsprengköpfe der NATO die ungarischen Städte Budapest, Miskolc, Debrecen, Csap und Komarom und die Donaubrücken. Der Warschauer Pakt schlägt innert der nächsten halben Stunde zurück. Wien, München, Verona, Vicenza und andere westeuropäische Städte werden neben militärisch wichtigen Standorten komplett zerstört. Danach geht der Warschauer Pakt in die Offensive: Sowjetische und ungarische Truppen folgen dem Donautal westwärts in Richtung München und südwestwärts via Graz nach Norditalien. In fünf bis sechs Tagen besiegen sie die österreichischen, italienischen und bundesdeutschen Streitkräfte und erreichen im Westen Passau und im Südwesten Villach. Das neutrale Österreich wird zu diesem Zeitpunkt zur Kapitulation gezwungen, Süddeutschland bis auf die Höhe Stuttgarts und Norditalien bis Bologna besetzt. Nach 13 Tagen sind die Ostblock-Truppen 600 Kilometer in „feindliches“ Territorium vorgedrungen.

Österreich überrollt

Christian Nünlist: „Das Dokument mit seinen schockierenden Details über den Prozess eines möglichen Atomkrieges führt uns vor Augen, wie wenig wir bis jetzt über die militärischen Aspekte des Kalten Krieges wissen.“ Die Dokumente würden jedoch keineswegs die Absicht beweisen, einen Krieg gegen den Westen zu initiieren, betont der Historiker. Das Szenario lehne sich dagegen an die strategische Doktrin des Warschauer Pakts an, wonach ein Krieg von einer Aggression der NATO ausgelöst und der Ostblock mit einer Gegenoffensive reagieren würde. Die Übung spielte mit einer heute fast nicht nachvollziehbaren Situation: Ungeachtet der totalen Zerstörung der fünf grössten Städte Ungarns und der daraus resultierenden Konsequenzen hätten die Militärs die Verluste in der NATO doppelt so hoch wie die eigenen eingeschätzt. Nünlist folgert: „Sie rechneten damit, dass der Warschauer Pakt den konventionellen Krieg unmittelbar nach dem nuklearen Schlagabtausch gewinnen könnte. Die Auswirkungen der nuklearen Strahlung wurden zu dieser Zeit nicht beachtet.“

Eine hervorstechende Aussage aus dem Inhalt der Dokumente sei zudem, dass die Neutralität Österreichs missachtet, die Alpenrepublik zu den potenziellen Feinden gezählt und in die Kriegsplanung integriert wurde. Nünlist erklärt: „Seit dem Abzug der westlichen Besatzungstruppen im Jahre 1955 in Österreich ist mitten in der atlantischen Allianz ein strategisches Vakuum entstanden, welches die Zentralfront der NATO von der Südfront trennte. Die Warschauer-Pakt-Planer zählten Österreich entweder generell zur westlichen Allianz oder sie rechneten damit, dass das Land zu Beginn eines Krieges von deutschen oder italienischen Truppen besetzt würde.“


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PHP_Atomkrieg
Collage zum Parallel History Project on NATO and the Warsaw Pact (PHP).

Aus diesem Grunde sei die Alpenrepublik für sie im Südwesten der Schauplatz des ersten Zusammenstosses zwischen Ost und West.

Neue Sichtweise – neue Fragestellungen

Für Professor Andreas Wenger und die Mitarbeitenden an der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse (FSK) der ETH Zürich birgt die neue Offenheit interessante Aspekte für die Forschungsarbeit: Früher hätten sich die Wissenschaftler in der traditionellen „Cold War History“ in erster Linie anhand von Dokumenten aus angelsächsischen Archiven mit den bilateralen Beziehungen der zwei Supermächte auseinandergesetzt. Wenger ist überzeugt, dass sich ähnliche Szenarien wie die aus dem Ostblock beschriebenen auch in den westlichen Archiven finden würden. Die Aufmerksamkeit der Forschenden verschiebe sich durch den Zugriff auf die neuen Quellen im Ostblock auf neue Fragestellungen und eine Internationalisierung der politischen Geschichte dieser Epoche zeichne sich ab. „Jetzt können wir auch die Entwicklungen innerhalb der beiden Blöcke untersuchen, die Beziehungen der Sowjetunion zu ihren Satelliten und die komplexe Dynamik der Beziehungen zwischen Washington, London, Bonn und Paris“, erklärt der Wissenschaftler. Eine weitere neue Dimension eröffne sich, weil durch die Dokumente auch Licht in die wechselseitigen Bedrohungswahrnehmungen der zwei Militärblöcke komme, wie es aufgrund des bis dahin vorliegenden Quellenmaterials nicht möglich war.

In dem sich seit 1990 wandelnden Weltbild hätten sich so auch Fragestellungen und Sichtweisen verändert. „Die Ostblockstaaten haben eine politische und militärisch autoritär geprägte Epoche abgeschlossen, sind z.T. in die NATO integriert und sind oder werden Mitglieder der Europäischen Union. Der Umgang mit der eigenen Geschichte ist heute ein anderer als noch vor über zehn Jahren“, betont Andreas Wenger. Ist ein Atomkrieg wie in der auf dem Papier geplanten Art überhaupt noch denkbar? – Wenger verneint dies, da sich die Probleme im Umgang mit den Nuklearwaffen seit dem Ende des Kalten Krieges weg von umfassenden Nuklearkriegsszenarien hin zu Fragen der Weiterverbreitung und zu terroristischen Einsatzszenarien verschoben haben. „Wurde in den 50-er Jahren noch ernsthaft über die Rahmenbedingungen eines militärisch erfolgreichen Nuklearwaffeneinsatzes nachgedacht, entwickelte die Nukleardebatte in den darauffolgenden Jahrzehnten zunehmend den Charakter einer politischen Statusfrage.“

ETH in internationalem Forschungsnetzwerk etabliert

„Der ETH ist es gelungen, sich mit der Beteiligung am PHP in einem internationalen Forschungsnetzwerk etablieren zu können“, freut sich Andreas Wenger. Er sieht dieses Engagement im PHP als Brücke zwischen einem amerikanischen und einem europäischen Forschungsdialog, wobei europäische Stimmen von beiden Seiten des ehemaligen „Eisernen Vorhangs“ sich vermehrt Gehör verschaffen. Als „Mitgift“ der ETH an das Projekt sieht Wenger das ISN (International Relations and Security Network) an, bei dem es auch erste Anknüpfungspunkte zu ETH World gibt. Über das ETH-Netzwerk werde der Forschergemeinschaft und weiteren interessierten Kreisen eine virtuelle Plattform für die Kommunikation und die Publikation erster Ergebnisse zur Verfügung gestellt. Das Interesse sei gross. Dies belegen die Zugriffszahlen der PHP-Website, die sich gegenüber dem letzten Jahr verdreifacht hätten.


Die ETH und das Projekt

Professor Andreas Wenger, Sonja Kreiner, Anna Locher und Christian Nünlist von der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse (FSK) an der ETH Zürich arbeiten seit 1999 als Partner am internationalen „Parallel History Project on NATO and the Warsaw Pact (PHP)“ mit, das von Vojtech Mastny (Washington) koordiniert wird. Zu den Sponsoren des Projekts gehören neben der FSK das National Security Archive, Washington, das Institute of Military Studies, Wien, und das Machiavelli Center for Cold War Studies, Florenz, denen viele weitere internationale Institutionen zur Seite stehen.

Die wissenschaftliche Arbeit der ETH-Mitarbeitenden ist darauf ausgerichtet, die politische Transformation der NATO zwischen 1955 und 1967 zu untersuchen. Die Forschenden recherchieren dazu in amerikanischen, kanadischen und NATO-Archiven über Krisen im westlichen Bündnis. Daneben studierten sie für das PHP aber auch DDR-Akten in Freiburg und Berlin sowie Stasi-Dokumente über die NATO. Sie betreiben im Rahmen des ISN die PHP-Website (www.isn.ethz.ch/php), wo laufend neue Dokumentenkollektionen zu den Militärallianzen im Kalten Krieg publiziert werden.






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