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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 24.10.2003 06:00

Dokumente des Kalten Krieges auf dem Web öffentlich gemacht
Muss Geschichte neu geschrieben werden?

Anfang der neunziger Jahre öffneten sich interessierten Historikerinnen und Historikern die Archive in Osteuropa. Die Dokumente, die auf der PHP-Website öffentlich zugänglich gemacht wurden und noch werden, vermitteln zum Teil eine völlig neue Sicht auf die Geschichte des Kalten Krieges. Muss dieser Teil der Geschichte nun neu geschrieben werden?

Von Regina Schwendener

"In dem sich seit 1990 wandelnden Weltbild haben sich Fragestellungen und Sichtweisen geändert. Zwar muss die Geschichte des Kalten Krieges nicht komplett neu geschrieben werden; aber dank der in den letzten Jahren neu zugänglich gewordenen Dokumente kann die Geschichte des Warschauer Pakts komplexer und differenzierter erzählt werden", beantworten Christian Nünlist und Anna Locher die Frage. Sie sind an der Aufarbeitung der in den Ostblock-Archiven gefundenen, brisanten Dokumente beteiligt, weil die Forschungsstelle für Sicherheitspolitik der ETH Zürich massgeblich im internationalen Forschungsnetzwerk "Parallel History Project on NATO and the Warsaw Pact" (1) mitarbeitet. Es wird von Prof. Vojtech Mastny aus Washington, koordiniert.

Priorität des PHP ist, die Freigabe von Dokumenten aus bisher weitgehend unzugänglichen Archiven in Nato- und ehemaligen Warschaupakt-Staaten zu erwirken, diese auszuwerten und Erkenntnisse daraus zur Verfügung zu stellen. ISN (International Relations and Security Network) (2) nennt sich diese "Mitgift" der ETH am Projekt, wie es Professor Andreas Wenger einmal ausdrückte. Über das ISN wird der internationalen Forschungsgemeinschaft und weiteren Interessierten eine virtuelle Kommunikationsplattform zur Verfügung gestellt.

"Kalter Krieg" nachvollziehbar

Der Warschauer Pakt beabsichtigte zum Beispiel für den Fall eines Krieges auf europäischem Boden die vollständige Zerstörung Münchens, Wiens und der italienischen Stadt Verona mit Atomwaffen, wie Funde in ungarischen Militärarchiven aussagen. Zwar vermuteten Historiker und Fachleute der Nato, dass der Warschauer Pakt ein entsprechendes Szenario geplant habe, jedoch fehlte der Beweis in Form von Dokumenten. Zudem wurde ein Geheimbericht des damaligen sowjetischen Verteidigungsministers Dimitrij Ustinow aus dem Jahr 1981 entdeckt, aus dem hervor geht, dass die sowjetischen Atomraketen SS 20 dafür vorgesehen waren, strategische Ziele in allen europäischen Nato-Staaten zu zerstören (vergleiche auch ETH Life vom 10. 12. 2001, "Atomkrieg geübt") (3).

Spannende Herausforderung

Nünlist erläutert: "Gerade weil der Kalte Krieg nicht zum befürchteten globalen nuklearen Entscheidungskampf führte - obwohl diese Möglichkeit Wahrnehmungen und politische Entscheidungen prägte -, liefern die Erfahrungen des jahrzehntelangen Konflikts wichtige Erkenntnisse zur Gestaltung des heutigen internationalen Systems." Für Zeithistorikerinnen und -historiker seien Fragen nach der Sicherheitsarchitektur zwischen 1947 und 1991 eine spannende Herausforderung, der seit 1989/91 in Kooperation mit Forschenden aus dem Osten begegnet werden könne.

Der Historiker räumt jedoch ein, dass die Kenntnisse über die Nato und den Warschauer Pakt bisher nicht nur durch den mangelnden Zugang zu den jeweiligen Archiven, sondern auch durch die Perspektive des Kalten Krieges erschwert worden seien. "Die Aufarbeitung beider Allianzen steckt daher noch in den Kinderschuhen." Aus tatsächlichen oder vermeintlichen Sicherheitsgründen würden viele Originaldokumente aus der Geschichte beider Allianzen nach wie vor unzugänglich bleiben.

Christian Nünlist ist mit Anna Locher an der Aufarbeitung der in den Ostblock-Archiven gefundenen, brisanten Dokumente beteiligt. gross


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Collage zum Parallel History Project on NATO and the Warsaw Pact (PHP).

Deutschland in Vorreiterrolle

Die Geschichtsschreibung zum Warschaupakt sei in vielerlei Hinsicht noch weniger weit gediehen als die zur Nato. Dies hänge sicher damit zusammen, dass die Archive erst seit kurzem offen seien, Primärquellen unter Verschluss gehalten wurden und zudem Sprachbarrieren zu überwinden seien. So variieren auch die Resultate des PHP von Land zu Land.

Zur Erklärung: Im Auflösungsabkommen des Warschaupakts (Februar 1991) vereinbarten die ehemaligen Ostblockstaaten, keine Dokumente an Drittstaaten weiterzugeben (4). Dennoch betrachteten die Tschechische Republik, Bulgarien oder Ungarn die Vereinbarung bald als veraltet. In etwas mehr als zehn Jahren seit der Auflösung der östlichen Allianz sind in diesen Ländern beträchtliche Bestände aus der Zeit des Kalten Krieges deklassifiziert und zugänglich gemacht worden. Eine Vorreiterrolle habe Deutschland gespielt, das die Archivbestände der DDR im Zuge der Wiedervereinigung ins deutsche Bundesarchiv integrierte und bis 1990/91 zugänglich machte, so Nünlist.

Aktuelle Deklassifizierungsprobleme

Polen weigert sich bisher aus Loyalität zum 1991-er Abkommen seine Bestände zum Warschauer Pakt für die Forschung zu öffnen. Dies ist um so bedauerlicher, als vom PHP durchgeführte und im letzten Jahr auf der PHP-Website publizierte Oral-History-Interviews mit polnischen Generälen spannende Hinweise auf die Rolle der polnischen Armee in den sowjetischen Kriegsplänen gegen Dänemark und andere Länder gegeben hatten.

In der Tschechischen Republik wird das Parlament vermutlich im nächsten Jahr ein neues Archivgesetz verabschieden, wonach eine 30-Jahr-Frist für die Deklassifizierung von Dokumenten eingeführt wird. Dies entspricht zwar dem westlichen Standard - wo zur Zeit Archivalien bis 1973 eingesehen werden können -, das Gesetz würde aber damit die in den letzten Jahren vorbildliche Zugänglichkeit in Prag beenden, stellt Nünlist bedauernd fest. Nach wie vor unzugänglich seien die Dokumente des sowjetischen Generalstabs in Moskau. Hier versuche das PHP mit Oral-History-Interviews sowjetischer Generäle die Lücke ein wenig zu schliessen.

PHP-Forschungschwerpunkte

Zwei Themenschwerpunkte charakterisieren die Arbeit des PHP: Kriegsplanungen und Fragen des Allianzmanagements. Zu Letzterem gehören die systematische Dokumentierung und Analyse der wichtigsten Gremien des Warschauer Pakts. Zudem hat sich das PHP von Anfang an darauf konzentriert, wechselseitige Bedrohungswahrnehmungen und daraus resultierende Kriegsplanungen der zwei Allianzen zu dokumentieren. Die Kriegspläne der Nato wie auch des Warschauer Pakts werden nach wie vor strikte unter Verschluss gehalten. Das PHP habe aber in den letzten Jahren zahlreiche Dokumentensammlungen veröffentlicht, so Christian Nünlist, die indirekt Aufschluss über die geheimen Pläne geben. Solche Publikationen hätten sich unter anderem auf Dokumente gestützt, die in der ehemaligen DDR, in Prager oder Budapester Militärarchiven gefunden wurden .

Aus den Akten der DDR konnten aber auch die Treffen der Verteidigungsminister des Warschauer Pakts von 1969 bis 1990 analysiert und die wichtigsten Dokumente veröffentlicht werden. Daraus gehe unter anderem hervor, dass die militärischen Führer des Ostblocks bereits in den siebziger Jahren verstärkt über die westliche Entwicklung von hochpräzisen konventionellen Waffen besorgt waren, weil sie erkannten, dass sie in diesem Waffenbereich deutlich in Rückstand geraten waren. Nünlist: "In der Spätphase des Kalten Krieges wirkten die konventionellen Waffen der Nato offenbar als mindestens so wirksame Abschreckung wie ihre Nuklearwaffen" (5).

Bis 20'000 Interessierte pro Monat

Das PHP hat mehrere internationale Konferenzen und Workshops mitorganisiert, hat aber auch unter anderem Kollektionen zum Ende des Kalten Krieges aus bulgarischer Sicht, zu Ungarn beziehungsweise Rumänien im Warschaupakt, zu den Beziehungen Chinas zum Warschaupakt oder zur Aufrüstung im Zusammenhang mit der zweiten Berlinkrise (1958 bis 1961) publiziert (6). Nach dreieinhalb Jahren ihres Bestehens erreicht die PHP-Website monatlich 15'000 bis 20'000 Besucherinnen und Besucher aus aller Welt.


Fussnoten:
(1) www.isn.ethz.ch/php
(2) www.isn.ethz.ch
(3) www.ethlife.ethz.ch/articles/PHP.html
(4) www.isn.ethz.ch/php/documents/collection_9/docs/Agreement_250291.pdf
(5) www.isn.ethz.ch/php/documents/collection_3/CMD_texts/introduction.htm
(6) www.isn.ethz.ch/php/collections/coll_overview.htm



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