ETH Life - wissen was laeuft

Die tägliche Web-Zeitung der ETH Zürich - in English

ETH Life - wissen was laeuft ETH Life - wissen was laeuft
ETH Life - wissen was laeuft
Home

ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Tagesberichte
Print-Version Drucken
Publiziert: 13.11.2001 06:00

Mit dem Lastwagen über die Ausweichroute ins Tessin
Nadelöhr San Bernardino

Seit der Brandkatastrophe im Gotthardtunnel fahren viele Lastwagen über den San Bernardino. ETH Life sprach mit einem ETH-Verkehrsexperten über die neue Situation und begleitete einen Lastwagenchauffeur auf seiner Route über den San Bernardino. Betrachtung aus zwei verschiedenen Perspektiven.

Von Richard Brogle

"Die Arbeitsbedingungen vieler ausländischer Lastwagenchauffeure erinnern mich an Sklaverei", meint Professor Heinrich Brändli, Professor am Institut für Verkehrsplanung, Transporttechnik, Strassen- und Eisenbahnbau (IVT) der ETH auf den Brand im Gotthardtunnel angesprochen. Ohne ausreichende Ruhezeiten und mit schlecht unterhaltenen Lastwagen müssten viele für geringe Bezahlung Waren durch ganz Europa transportieren. Vielfach seien vor allem ausländische Lastwagen in einem so schlechten Zustand, dass sie eigentlich nicht mehr durch die Alpen fahren dürften.

Laut Brandli könnte grundsätzlich auch der San Bernardino mit einem Lastwagen sicher befahren werden, aber das setzte die entsprechende Ausrüstung und eine ausreichende Ausbildung der Lastwagenchauffeure voraus. Brändli: "Bei Schnee wird es am San Bernardino ohne Ketten schnell gefährlich." Viele ausländische Lastwagen führten aber gar keine Schneeketten mit und dann seien Unfälle bei einem plötzlichen Wintereinbruch vorprogrammiert.

Und die Bahn?

Laut Brändli sind die vielfach schlechten Arbeitsbedingungen auf der Strasse für die Bahn ein Wettbewerbsnachteil: "Die Bahn fährt mit gut ausgebildeten, ausgeruhten und daher teuren Lockführern, während auf Europas Strassen viel zu oft übermüdete und schlecht instruierte Lastwagenchauffeure anzutreffen sind." Aber auch hausgemachte Probleme behindern die Bahnen. Brändli ist überzeugt, dass bei der Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit noch einiges im Argen liegt, besonders grenzüberschreitend. Ein Problemkind sei seit Jahren Italien. Überhaupt sei festzustellen, dass nur die kleinen Länder wie die Schweiz wirklich mit Volldampf an grenzüberschreitenden Lösungen arbeiteten; für die grossen Länder sei dagegen vor allem der Binnenmarkt interessant. Ein weiteres Problem sind die unterschiedlichen Strom- und Sicherheitssysteme. Brändli: "Früher haben Wirtschaft und Politik viel zu oft einer einheimischen Lösung gegenüber einer gesamteuropäischen den Vorzug gegeben. Aus protektionistischen Gründen." Da mittlerweile viele Unternehmen in verschiedenen Ländern operierten, verlangen diese heute auch mehr und mehr einheitliche Lösungen. Gemeinsame Lösungen wie das transeuropäische Zugssicherungssystem ETCS sind mittlerweile in der Einführungsphase.

San Bernardino
Einbahnverkehr im San Bernardino-Tunnel für den Schwerverkehr. gross

Einen zweiten Strassentunnel am Gotthard hält Brändli nicht für nötig, da ein Stau nur an wenigen Ferientagen bei Spitzenbelastungen von 35'000 Fahrzeugen pro Tag auftritt. Normalerweise passierten nur rund 19'000 Fahrzeuge den Gotthardtunnel. Soweit der Fachmann, nun eine Fahrt durch das neue Nadelöhr der Nation.

Sicht aus dem Lastwagen

Der Lastwagenzug von Urs Daniel ist rund 18 Meter lang und 2 Meter 50 breit. Daniel hält kurz an der Westtangente und lässt unseren Reporter einsteigen. ETH Life will sich ein Bild vor Ort machen. Daniel hat am Morgen in einem Verteilzentrum in der Nähe von Zürich Bier, Mineralwasser, Frischprodukte und andere Lebensmittel geladen. "All das muss ich bis heute Abend an verschiedene Tankstellenshops im Tessin liefern", erklärt er während er durch Zürich fährt. Normalerweise würde die Route durch den Gotthardtunnel ins Tessin führen, seit dem Tunnelbrand müssen Anhängerzüge aber auf die San-Bernardino-Route ausweichen. Also nimmt er Kurs auf Graubünden.


weitermehr

Urs Daniel
Urs Daniel: "Ich muss als Chef wissen, was an der Front läuft." gross

Wer bezahlt die Mehrkosten?

Kurz nach Chur macht Daniel die Rechnung: Die Fahrt ins Tessin über den San Bernardino ist für ihn rund 80 Kilometer weiter. Bei einer LSVA-Gebühr von 58 Rappen pro Kilometer macht dies gut 46 Franken zusätzlich. Dazu kommen Treibstoff- und Abnützungskosten des Fahrzeuges. Höher zu Buche schlagen aber die Chauffeurkosten für die zusätzlichen zwei Stunden Arbeitszeit. Aber wer bezahlt diese Mehrkosten? "Mit unseren Kunden verhandeln wir zur Zeit. Die Grosskunden haben eingesehen, dass sie diesen Mehraufwand wohl zu einem grossen Teil übernehmen müssen", meint Daniel. Da gerade einige Chauffeure in den Ferien oder krank sind, führte die Sperrung des Gotthardtunnels zu einem kleinen Personalengpass in der Firma. "Jetzt habe ich das ‚Übergwändli' wieder hervorgeholt und fahre halt selbst", meint der Chef der Transportfirma mit 35 Angestellten. Kein Problem für Daniel, der jedes Jahr mindestens zwei Wochen hinter dem Steuerrad sitzt: "ich muss als Chef wissen, was an der Front läuft."

"Es kann knapp werden"

Nach Thusis sind die ganzen 380 PS seines Volvo-Lastwagens FH12 gefordert. Aber nicht alle Lastwagen sind so stark. Daher empfindet er auch das Überholverbot zwischen Thusis und Mesocco als Schikane: "Wenn ich während des ganzen Aufstieges hinter einem schwach motorisierten Lastwagen mit 30 Stundenkilometern herfahren muss, ist das extrem mühsam." Kurz vor dem Tunnel werden die Personenwagen auf die alte Strasse umgeleitet, während Daniel im Lastwagen auf der Autobahn angehalten werden. Der Schwerverkehr wird im wechselnden Einbahnverkehr durch den Tunnel geführt. Für den Einbahnverkehr hat Daniel Verständnis: "Wenn einer sich nicht sehr gewöhnt ist, auch bei den Baustellen ganz rechts zu fahren, dann kann es schnell in der Mitte knapp werden. Mindestens um die Spiegel ist es dann geschehen."

Mulmiges Gefühl

Mittlerweile sind knapp 20 Minuten vergangen. Die Lastwagen-Schlange setzt sich in Bewegung. Wir fahren in den Tunnel. Angst? Nein Angst hat Daniel eigentlich nicht. "Aber als ich das erste Mal nach dem Unglück im Gotthardtunnel hier durch den San Bernardino fuhr, hatte ich schon ein mulmiges Gefühl und schaute jeden entgegenkommenden Lastwagen genau an, ob er nicht über die Mittellinie fuhr." Daniel ist überzeugt, dass sich die kurze Wartezeit gelohnt hat, wenn die Sicherheit mit dem Einbahnverkehr erhöht werden kann. Für ihn ist auch klar, dass am Gotthard unbedingt ein zweiter Tunnel gebaut werden muss, für die Sicherheit einerseits und zur Vermeidung von Staus andererseits. Als Beispiel führt er den Walensee an: "Am Qualensee hatten wir früher jede Woche Stau, seit der zweiten Röhre ist das Problem weg." Mittlerweile haben wir den Tunnel verlassen und sind an 49 auf der Südrampe stehenden Lastwagen vorbeigefahren.

Traumberuf?

Ist Lastwagenfahrer noch ein Traumberuf? Sind sie immer noch die Könige der Landstrassen, die einander mit CB-Funk vor drohenden Verkehrskontrollen warnen? Zwar hat Daniel im Lastwagen einen CB-Funk, aber sonst sei es nicht wie in der Fernsehserie "auf Achse". Daniel: "Dort sieht man nie, wie sie auf- und abladen müssen." Aber genau das müssen wir jetzt. Kurz vor Bellinzona beliefern wir einen Tankstellenshop mit Getränken und Lebensmitteln. Hier lässt Daniel den Anhänger stehen und fährt weiter. In Bellinzona verabschiedet sich der Reporter von Daniel, der noch einige Tankstellen beliefern und dann im Lastwagen übernachten wird. Der Reporter fährt nun zurück, diesmal durch den Gotthard - mit der Bahn.




Sie können zu diesem Artikel ein Feedback schreiben oder die bisherigen lesen.




!!! Dieses Dokument stammt aus dem ETH Web-Archiv und wird nicht mehr gepflegt !!!
!!! This document is stored in the ETH Web archive and is no longer maintained !!!