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Rubrik: Tagesberichte |
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PHP veröffentlicht brisante Online-Dokumente-Kollektion Nato wurde ausspioniert |
Dank ostdeutscher Meisterspione wie "Topas" blieb der DDR-Führung in den späten Jahren des Kalten Krieges kaum ein Geheimnis aus dem Nato-Hauptquartier in Brüssel verborgen. Das weiss man heute dank der sogenannten Gauck-Behörde in Berlin. Im Rahmen des "Parallel History Project" (PHP), an dem die ETH-Forschungsstelle für Sicherheitspolitik beteiligt ist, wurden die Stasi-Dokumente zur Nato ausgewertet. Sie wurden heute Donnerstag Nachmittag für interessierte Historikerinnen und Historiker sowie eine breitere Öffentlichkeit online geschaltet – einmalig für Europa. Was die Gauck-Behörde ermöglichte, ist ein historischer Durchbruch, denn Originaldokumente der westlichen Regierungen, darunter auch diejenigen im 1999 eröffneten Nato-Archiv in Brüssel, bleiben üblicherweise 30 Jahre lang unter Verschluss. Von Historiker Christian Nünlist ist zu erfahren, dass man also von dieser Seite her vorläufig nichts über Ansichten und Pläne erfahren könnte, die im Rahmen des Kalten Krieges initiiert wurden: "Deshalb ist die Veröffentlichung der Stasi-Unterlagen zur Nato etwas Aussergewöhnliches (1)." Stasi-Archive "reden" "Dass wir über diese Vorgänge heute so genau Bescheid wissen, verdanken wir der deutschen Gauck-Behörde, die 1992 für Archivierung und Aufarbeitung der Stasi-Akten ins Leben gerufen wurde", äusserte Historiker Bernd Schäfer. Obwohl die allermeisten Akten der ostdeutschen Auslandaufklärung nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 legal vernichtet oder unter Verschluss genommen wurden, sind in den Archiven der Gauck-Behörde noch etwa 6000 bis 10'000 Seiten Dokumente über die militärische Spionagetätigkeit der DDR im Westen vorhanden und für die Forschung einsehbar. Schäfer, Research Fellow am German Historical Institute in Washington DC, hat diese Archivbestände als Experte auf diesem Gebiet im Rahmen des Parallel History Project (2) ausgewertet.
Bereits Anfang der 1960er Jahre war es der für die Auslandsspionage zuständigen Stasi-Abteilung "Hauptverwaltung Aufklärung" (HVA) gelungen, erste Informationsquellen bei der Nato in Brüssel anzuzapfen. Die Berichte von Meisterspion "Topas" und anderen Agenten geben unter anderem Auskunft über die Diskussion und den Stand der Stationierung der nuklear bestückten Pershing-II-Mittelstreckenraketen in Westeuropa zu Beginn der 80er Jahre sowie darüber, wie die Nato ihr militärisches Gegenüber, den Warschauer-Pakt, einschätzte. Daneben dürften auch die sogenannten Planerfüllungsberichte einzelner Nato-Staaten von besonderem Interesse für den Osten gewesen sein, gaben diese doch detaillierte Auskunft über die effektive militärische Stärke des Gegners.
"Präventivschlag" ausgeschlossen Obwohl es der HVA und auch den weitgehend von ihr kontrollierten Agenten des militärischen Nachrichtendienstes der ehemaligen DDR nie gelang, Informationen über die Festlegung der genauen Ziele eines Nato-Nuklearschlags zu bekommen und auch das europäische Oberkommando der Nato in Belgien (SHAPE) offenbar zu keiner Zeit von ostdeutschen Spionen infiltriert war, lieferte die DDR-Militärspionage ein erstaunlich umfassendes Bild der Pläne der westlichen Militärallianz. Schäfer vermutet, dass die Informationen, welche über die DDR nach Moskau gelangten, in der Zeit von 1981 bis 1983 die abenteuerlichen Kriegspläne der Sowjetunion bremsten. Das von "Topas" gelieferte Material belegte nämlich, dass die Befürchtung, der Westen könnte einen nuklearen Präventivschlag gegen die Warschauer-Pakt-Staaten führen, unbegründet waren. Die sowjetische "Kriegsangst" von 1981-83 Christian Nünlist erläutert den historischen Kontext der brisanten Dokumente: Nach einer längeren Entspannungsphase verschärften sich die Ost-West-Beziehungen in den frühen 80er Jahren wieder. Der sogenannte "zweite Kalte Krieg" von 1981-85 war hauptsächlich ein Krieg der Worte: US-Präsident Ronald Reagan bezeichnete die Sowjetunion im Juni 1982 als ein "Imperium des Bösen", worauf der sowjetische Führer Juri Andropov den amerikanischen Präsidenten einen "Geisteskranken" und einen "Lügner" nannte.
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Aufgrund waffentechnologischer Fortschritte des Westens glaubte der Kreml ab 1981, den Kalten Krieg zu verlieren, und fürchtete sich vor einem nuklearen Überraschungsschlag der USA. Andropov, damals noch KGB-Chef, löste 1981 die bisher grösste Geheimdienstaktion des Ostblocks aus, um ein Frühwarnsystem für Indikationen eines US- oder Nato-Angriffs aufzubauen. Die Aktion erhielt den Codenamen "RYaN" (russische Abkürzung für "Nuklearer Raketenangriff"). 1983 erreichte die sowjetische Kriegsangst in der Folge der Debatte über die Stationierung von amerikanischen Pershing-II-Raketen in der BRD, Reagans Ankündigung der SDI, einem von den Medien "Star Wars" genannten Plan eines weltraumbasierten Raketenschilds, und des sowjetischen Abschusses einer Boeing 747 von Korean Airlines (KAL 007) ihren Höhepunkt. Als die Nato in dieser aufgeladenen Atmosphäre mit ihrer Militärübung "Able Archer 83" einen Praxisdrill von Prozeduren für einen umfassenden Atomschlags durchführte, sandte die KGB-Zentrale am 8./9. November 1983 einen Alarm an alle westeuropäischen KGB-Agenten, um herauszufinden, ob die Nato-Übung möglicherweise den Auftakt eines realen Nuklearangriffs bildete. Für den später übergelaufenen KGB-Agenten Oleg Gordievsky kam die Welt in diesen Stunden einem atomaren Schlagaustausch "gefährlich nahe, sicherlich näher als jemals seit der Kubakrise von 1962" (3). Das Politbüro oder die höheren Hierarchien des sowjetischen Verteidigungsministeriums wurden jedoch vom KGB nicht alarmiert. Wie PHP-Projektleiter Vojtech Mastny aus Washington kommentiert, haben damit unbekannte KGB-Analytiker möglicherweise eine Tragödie verhindert, die vielleicht aus einer hektischen Politbüro-Sitzung hätte entstehen können, wären den sowjetischen Führern die explosiven Informationen überbracht worden. US-Kriegsplan für die Nato Unter den Dokumenten, die das PHP heute nachmittag veröffentlicht, ist ein Schlüsseldokument - der amerikanische Kriegsplan für die Nato vom Januar 1981 für das V. Armeekorps der US-Streitkräfte in der BRD, erklärt Christian Nünlist, während ein weiterer Teil Spezial-Dokumente sind, zum Beispiel Auflistungen der nuklearen und chemischen Waffenpotenziale bedeutsamer Schwellenländer wie Israel, Südafrika, Indien, Pakistan, Irak, Iran, Libyen, Syrien, Argentinien oder Brasilien von 1989 (4). Bei der militärischen Planung der USA und der Nato zum Einsatz des V. Armeekorps handelt es sich um den "Geheimen Operationsplan 33001 (General Defense Plan, GDP)", der vom Stab der US-Landstreitkräfte in Europa erarbeitet, vom US-Heeresministerium bestätigt und nach Abstimmung mit der Nato in die Nato-Planungen aufgenommen wurde. Dieser topgeheime Plan ist laut Original-Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit in zwei Teile - den "OPLAN" (Grundsatzplan) und den Anlageplan - gegliedert: "Der OPLAN beinhaltet neben allgemeinen Angaben über die Absichten, die Ziele und den operativen Aufbau der Verteidigung der Nato-Armeegruppe Mitte (CENTAG) die detaillierten Aufgabenstellungen an das V. Armeekorps und an die ihm unterstellten Kampf- und Unterstützungstruppen zur Führungen der Verteidigungsoperationen sowie grundsätzliche Festlegungen zum Zusammenwirken und Massnahmen zur Führung und Verbindung des Korps. Der Anlageteil enthält unter anderem Anlagen über die operative Gliederung des Korps, die Begrenzung der Korps- und Divisionsverteidigungsstreifen, die Idee zur Führung der Operation und Massnahmen zu deren Sicherstellung, einschliesslich der Grundsätze zum Einsatz von Kernwaffen und chemischen Kampfstoffen sowie Anlagen über den geplanten Einsatz auswärtiger Verstärkungskräfte im Rahmen des V. Armeekorps/USA (5)." Wie gross der Beitrag der ostdeutschen Spione war, einen Nuklearkrieg zwischen Ost und West zu verhindern, lässt sich schwer abschätzen. Wichtiger als die Informationen über die Nato, die Moskau über die HVA-Agenten aus Brüssel und Bonn erhielt, waren laut Vojtech Mastny die Fakten, nach denen sie vergeblich suchten, weil sie gar nicht existierten - namentlich den vermuteten und befürchteten nuklearen Erstschlag. Die Nato-Militärstrategie, welche dank der Spione für Moskau ein offenes Buch darstellte, war nämlich klar defensiv ausgerichtet.
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Fussnoten:
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