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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 11.01.2006 06:00

Chirale Solitonen in Quanten-Spinsystemen
Versteckte Händigkeit

Wie verhält sich Materie, wenn man sie anregt? Diese zentrale Frage der Festkörperphysik ist auch heute noch nicht beantwortet. Ein ETH-Physiker konnte zusammen mit Kollegen zeigen, dass die elementaren Anregungen eines Antiferromagneten chirale Spinanordnungen aufweisen - ein bisher noch nie aufgezeigter Materiezustand, der ein weites Feld öffnet. Die Arbeit dazu ist kürzlich im Wissenschaftsmagazin „Nature Physics“ erschienen.

Christoph Meier

Man kann einen Handschuh drehen und wenden, wie man will, er passt jeweils nur auf eine Hand. Der Grund dafür liegt in seiner Chiralität. Chirale Objekte zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass ihr Spiegelbild nicht deckungsgleich mit dem ursprünglichen Objekt ist. Neben unseren Händen und Handschuhen gibt es aber in der Natur noch viele weitere Beispiele für chirale Objekte: Schneckenhäuser, DNA und sogar Elementarteilchen wie Neutrinos.

Wenn aber dieses Strukturprinzip auf den verschiedensten Skalen vorkommt, stellt sich die Frage, ob die Chiralität nicht ein fundamentales Ordnungsprinzip darstellt? Könnte es vielleicht sein, dass chirale Strukturen den schwierig zu erklärenden Eigenschaften, wie man sie in Hochtemperatur-Supraleitern antrifft, zugrunde liegen?

Der ETH-Physiker Hans-Benjamin Braun und Kollegen haben mit einer neuen Studie, die in der Dezemberausgabe von Nature Physics publiziert wurde (1), neues Licht auf diese Fragen geworfen. Das Team, das neben Schweizern auch Forscher aus Frankreich, Deutschland und England umfasst, studierte dafür als Modellsystem CsCoBr3-Kristalle.

In diesem magnetischen Salz sind die Elektronenspins der Kobaltionen in einer Richtung stark gekoppelt und bilden eine Spinkette. Entlang der Kette zeigen benachbarte Spins abwechselnd aufwärts oder nach unten, was typisch für einen Antiferromagneten ist. Üblicherweise besteht die einfachste, elementare Anregung eines Antiferromagneten im Wesentlichen aus dem Umklappen eines einzelnen Spin, einem sogenannten Magnon.

Vetrackte elementare Anregungen

In den nun von den Forschern untersuchten Spinketten ist ein solches Magnon nicht stabil. Es gliedert sich in zwei sogenannte Solitonen auf, die den Übergängen unterschiedlicher antiferromagnetischer Ordnung entsprechen (gelb und rot im Hintergrund des Bildes oben rechts). Denn so wie es zwei Möglichkeiten gibt, ein Schachbrett einzufärben, gibt es auch in einem Antiferromagneten zwei Möglichkeiten antiferromagnetischer Ordnung, die durch eine Rotation der Spins um 180 Grad auseinander hervorgehen. Da jedoch Spins Quantenobjekte sind, bewegen sich die Solitonen als Folge von Quantenfluktuationen.

Braun und Mitarbeiter konnten nun zum ersten Mal zeigen, dass dabei eine erstaunliche Metamorphose stattfindet: Während die antiferromagnetische Ordnung verschwindet, erhalten die Solitonen eine Chiralität oder Händigkeit. Bildlich bedeutet das, dass der Übergang zwischen den beiden antiferromagnetischen Zuständen nicht abrupt geschieht, sondern sich im untersuchten Salz fliessend über viele Kobaltatome hinweg erstreckt.

So knapp diese Erkenntnis zusammengefasst werden kann, soll sie doch nicht über die Schwierigkeiten hinwegtäuschen, die für den Nachweis der Chiralität überwunden werden mussten. Komplexe theoretische Vorhersagen sowie eine mühsame Identifizierung geeigneter experimenteller Methoden waren nötig. Denn so wie eine Lösung, die linkshändige und rechtshändige Moleküle in gleichen Massen enthält, optisch inaktiv ist, so verbirgt der Quantenzustand des ganzen Antiferromagneten in gleichen Massen links und rechtshändige Solitonen - die Chiralität ist „versteckt”. Man muss also eine Sortiermethode für die verschiedenen „Quantenhandschuhe“ finden. Das ist aber noch nicht alles: Zusätzlich braucht es noch eine experimentelle Methode, die es ermöglicht, die magnetische Spinanordnung auf atomarer Skala nachzuweisen.

Einmal rundherum krabbeln genügt für eine Ameise nicht, um am selben Ort des Möbiusbandes zu sein. Entsprechend muss auch der Quantenspin des Elektrons zweimal rotiert werden, bis er wieder in seinen Ausgangszustand zurückkehrt. Dieser Effekt führt zu Chiralität in Quantenspinsystemen, wie ein ETH Forscher herausfand. gross


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Ein neuer Materiezustand: Statt abrupten Wechseln zwischen verschiedenen antiferromagnetischen Ordnungen (rot und gelb im Hintergrund), gibt es fliessende Übergänge (Vordergrund), sogenannte Solitonen, die sich in ihrer Händigkeit unterscheiden. (Graphische Umsetzung: Hans-Benjamin Braun) gross

Sortieren mit Magnet, Nachweis mit Neutronenbeschuss

Während die Forscher das erste Problem der „gemischt-chiralen“ Solitonen elegant durch das Anlegen eines schwachen Magnetfeldes lösten, brauchte der Nachweis der Spinanordnung einen grösseren Aufwand. Schliesslich erwies sich eine Methode, bei der Neutronen mit einheitlich ausgerichtetem Spin am untersuchten Kristall gestreut wurden, als erfolgreich. Die Wissenschaftler nützten dabei aus, dass ein derart polarisiertes Neutron stärker von Solitonen einer bestimmten Händigkeit gestreut wird. Aus dem Vergleich der inelastischen Streuintensitäten der beiden Polarisationen konnten die Forscher den eindeutigen Nachweis der Chiralität erbringen. Die Experimente wurden in Grenoble am Institut Laue-Langevin durchgeführt mit dem intensivsten polarisierten Neutronenstrahl, der derzeit weltweit existiert. Trotz dieser Intensität waren aber teilweise Versuche von bis zu 60 Stunden Dauer nötig, um ein genügend starkes Signal zu erhalten, während in konventionellen Neutronenstreu-Experimenten typischerweise eine Viertelstunde Messzeit pro Datenpunkt genügt.

Doch auch wenn man Chiralität messen kann, wie soll man das Phänomen verstehen? Als Erklärung für die chirale Natur der Solitonen verweisen die Forscher auf die sogenannte Berry-Phase, eine verblüffenden Eigenschaft von Quantensystemen. Diese führt dazu, dass ein Elektron nach einer vollständigen Rotation nicht in seinen Ausgangszustand zurückkommt, wie man es von einem klassischen Objekt erwarten würde. Das Elektron benötigt dafür vielmehr eine zusätzliche vollständige Umdrehung, ähnlich den Ameisen in einem Bild von Maurits Cornelis Escher (vgl. Bild links unten). Diese absolvieren auch zweimal die gesamte Bandlänge bis sie am Ausgangspunkt sind. Ein Soliton, das die Spins während seiner Ausbreitung um 180 Grad dreht, kann das auf zwei Arten tun: rechts- oder linksdrehend. Während dies klassisch ohne Bedeutung ist, sind die zugehörigen quantenmechanischen Zustände verschieden: Ameisen, die sich von einem Punkt des Möbiusbandes in entgegengesetzte Richtung fortbewegen, finden sich nach Durchlaufen der halben Bandlänge auf entgegengesetzten Seiten des Möbiusbandes wieder. Diese Entstehung der Chiralität ist bemerkenswert, da der antiferromagnetische Zustand, aus dem diese Anregung spontan hervorgeht, keinerlei Zeichen einer Chiralität zeigt.

Chiralität in höheren Dimensionen erwartet

Dieser nun zum ersten Mal für Spinketten nachgewiesene Mechanismus der Entstehung von Chiralität ist derart fundamental, dass Hans-Benjamin Braun erwartet, dass er in dieser oder leicht abgewandelter Form in vielen anderen Systemen, insbesondere auch in höheren Dimensionen als den eindimensionalen Ketten am Werk ist. Damit wäre dann auch die Universalität dieses neuen Materiezustandes bewiesen.

Die Studie hilft auch, den Schleier von stark korrelierten Elektronensystemen zu lüften. Denn die Experimente stellen den ersten direkten Nachweis eines Spinstroms, der ohne begleitenden Ladungsstrom fliesst, in einem System stark korrelierter Elektronen dar. Breiter gefasst könnte die Arbeit von Braun und seinen Kollegen auch der Supraleiterforschung oder der Spintronik und somit Quantencomputern Impulse verleihen.


Fussnoten:
(1) HB Braun et al: “Emergence of soliton chirality in a quantum antiferromagnet”, Nature Physics 1, 159-163 (2005)



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