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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 22.12.2005 06:00

Kristallographie
Durchbruch bei Strukturaufklärung

Haben Kristallographen der ETH Zürich einen Gral der Wissenschaft entdeckt? Mit einem neuen Berechnungsverfahren ist es ihnen gelungen, die Struktur von Kristallgittern präzise vorauszusagen, ohne dass experimentelle Daten einfliessen. Kern der Geschichte ist ein ausgeklügeltes Rechenverfahren, das auf einem so genannten evolutionären Algorithmus basiert.

Peter Rüegg

Noch 1988 schrieb John Maddox, Chefredaktor der Fachzeitschrift „Nature“, es sei beinahe ein Skandal, dass bis dato niemand die Kristallstruktur von Materialien per Computer voraussagen könne. Nur zu gerne zitiert heute Artem Oganov vom Laboratorium für Kristallographie der ETH diese Passage aus einem der über 700 Nature-Editorials, die Maddox schrieb. Denn obwohl seit Maddox’ Aussagen 17 Jahre vergangen sind, hat es bisher noch niemand geschafft, Kristallstrukturen mit vernünftigem Aufwand an Computerleistung und Geld vorauszusagen. Zu komplex sind Strukturberechnungen von Kristallen, zu gross der rechnerische Aufwand. Selbst für Kristalle mit relativ wenigen Atomen pro Einheitszelle gibt es eine Unzahl von Möglichkeiten für Strukturen. „Die Komplexität ist astronomisch“, sagt Oganov.

Struktur-Darwinismus

Dem russischen Forscher ist es zusammen mit dem ETH-Studenten Colin Glass aber nun gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, das ein Ende von Maddox’ „Skandal“ ankündigt. Um die Kristallstrukturen zu finden, verwenden sie eine selbst entwickelte Software. Diese basiert auf einem so genannten evolutionären Algorithmus, welcher die Kristallstrukturen unter vorgegebenen Temperatur- und Druckverhältnissen findet. Der Computer braucht dazu nicht einmal mehr mit experimentellen Daten gefüttert zu werden, wohl aber mit der chemischen Zusammensetzung der gesuchten Struktur. Damit erzeugt das Programm neue Strukturen, bewertet diese, filtert schlechte aus und verwendet die Guten, um neue Strukturen zu erzeugen. Bis der Computer am Ende eine Kristallstruktur ausspuckt, die unter den vorgegebenen Bedingungen stabil ist.

Diese Methode ist schneller und zuverlässiger als alles Bisherige. Sie braucht viel weniger Computer-Kapazitäten, und sie kann mehr Atome pro Kristalleinheit berücksichtigen. Und die Arbeit an dieser Methode ist noch längst nicht abgeschlossen. Oganov und Glass arbeiten derzeit mit Hochdruck daran, den Code zu verbessern, so dass in wenigen Monaten wesentlich grössere Strukturen vorausgesagt werden können. Die Wissenschaftler hoffen, dass sie mit dieser Methode bald Systeme berechnen, die hunderte oder sogar tausende von Atomen pro Einheitszelle enthalten. „Die Methode funktioniert für alle Typen von Kristallen, an denen wir interessiert sind und in fast 100 Prozent der Fälle“, hebt Oganov eine weitere Besonderheit hervor.

Semesterarbeit gab Anstoss

Speziell ist auch, dass wichtige Impulse von einem Studenten der ETH stammen: Colin Glass. Mit einer Semesterarbeit ist er ins Thema eingestiegen – und dran geblieben. Oganov lobt ihn als genialen Kopf, der den Computercode in eigener Regie entwickelt habe. Allerdings hätte es viel Denkarbeit beider Beteiligten gebraucht. Acht Monate tappten die Forscher im Dunkeln und erhielten keine brauchbaren Resultate. Danach hätten sie neue Ideen entwickelt und plötzlich habe das System funktioniert, sagt Oganov.

Mit der neuen Methode ist es Oganov zum Beispiel gelungen, in kurzer Frist die Kristallstruktur von Kalziumkarbonat vorauszusagen, wenn dieses unter hohen Druck kommt. Dieser Vorgang findet dort statt, wo sich die Platten der Erdkruste unter andere schieben und in den heissen Erdmantel abtauchen. Kalziumcarbonat ändert unter den Druck- und Temperaturbedingungen des oberen Erdmantels seine Phase und wird zu Aragonit. Unter noch stärkeren Drucken wird daraus Post-Aragonit.

Dank eines neuen Rechenverfahrens konnten ETH-Forscher die Struktur der Post-Aragonit-Phase von Kalziumkarbonat zum ersten Mal berechnen und darstellen. Rote Kugeln: Kalzium; blaue Kugeln: Kohlenstoff, grünliche Kugeln: Sauerstoff. (Bild: A. Oganov / Laboratorium für Kristallographie) gross


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Dass dieses stabil ist, war bereits bekannt. Doch dessen Kristallstruktur war bisher weder durch Experimente noch durch traditionelle Berechnungen zu bestimmen. Mit dem neuen Rechenverfahren kann nun Oganov diese Wissenslücke schliessen. Die Ergebnisse werden Anfang 2006 in „Earth and Planetary Science Letters“ (1) veröffentlicht.

Das neue Simulations-Verfahren der beiden Kristallographen öffnet die Türe für Anwendungen in Pharmazie, der Herstellung besonders harter Werkstoffe, aber auch bei der weiteren Erforschung der geophysikalischen Vorgänge im Erdinneren. Erste Kontakte mit der Industrie sind bereits geknüpft.


Neue Kristallstrukturen in der D''-Schicht des Erdmantels
Durch das Verschieben(Pfeile) einzelner Kristallebenen entsteht aus Perovskit (a) die neu entdeckte, energetisch stabile Übergangsform (c), durch ein weiteres Verschieben entsteht die Schichtstruktur von Post-Perovskit (d). Daraus kann eine weitere neue Übergangsstruktur entstehen (d). (Bild: A. Oganov et al.) gross

Vor einem guten Jahr entdeckte Artem Oganov vom Laboratorium für Kristallographie der ETH und sein japanischer Kollege, dass die D’’-Schicht, also die Trennschicht zwischen dem unteren Erdmantel und dem Erdkern, aus dem bis anhin unbekannten Mineral Post-Perovskit besteht. Dieses ist wie Perovskit aus je einem Magnesium und Silizium-Atom sowie aus drei Sauerstoffteilen zusammengesetzt. Perovskit dagegen war seit längerem bekannt, es ist das häufigste Mineral des unteren Erdmantels. Unter den extremen Druck- und Temperaturbedingungen, wie sie 2700 Kilometern tief im Erdinnern herrschen, verwandelt sich dieses zu Post-Perovskit. Dessen Kristallstruktur ist im Gegensatz zu Perovskit geschichtet. (2) Für die Kristallographen waren diese Erkenntnisse so neu wie überraschend. Dank ihnen liessen sich zahlreiche geophysikalischen Phänomene der D’’-Schicht erklären. Unter anderem lieferte die ausgeprägte Anisotropie des Post-Perovskit die Erklärung dafür, weshalb Erdbebenwellen in der D’’-Schicht je nach Typ und Orientierung der Wellen unterschiedlich schnell verlaufen.

Mit einer weiteren neuen Rechenmethode haben nun Oganov und Kollegen herausgefunden, wie sich Perovskit und Post-Perovskit plastisch verformen. Die Resultate wurden in der aktuellen Ausgabe von „Nature“ publiziert (3). Zu ihrer Überraschung fanden die Wissenschaftler zwei neue, energetisch gute Übergangsformen zwischen den beiden Phasen. Geklärt haben die Forscher auch den Mechanismus dieser plastischen Verformung von Perovskit und Post-Perovskit. Dieser Mechanismus involviert so genannte Schichtungsfehler, also deplatzierte Schichten der Grundstruktur, die lokal Fragmente der Post-Perovskit-Struktur im Perovskit produziert und umgekehrt auch Bruchstücke der Perovskit-Struktur im Post-Perovskit. Dies geschieht relativ einfach und führt zur Ausrichtung der Post-Perovskit-Kristalle in den Konvektionsflüssen in der D’’-Schicht. Genau diese Anordnung erklärt die Anisotropie der D’’-Schicht

Die neue Entdeckung erlaubt es den Wissenschaftlern, den Konvektionsfluss im Erdmantel zu veranschaulichen. Der extreme langsame Konvektionsfluss des harten felsigen Mantels ist schliesslich verantwortlich für die Bewegung der Erdplatten, Erdbeben und Vulkanismus. Die Rechenleistung, die hinter der Strukturaufklärung der Post-Perovskit-Formen steckt, ist enorm und kamen dank des Supercomputers des CSCS der ETH in Manno zu Stande. Ein normaler Computer müsste hierfür ein bis zwei Jahre kontinuierlich rechnen.




Fussnoten:
(1) Oganov, A.R., C.W. Glass & S. Ono (2006): High-pressure phases of CaCO3: Crystal structure prediction and experiment. Earth and Planetary Science Letters, www.sciencedirect.com
(2) s. ETH Life-Artikel “Gegen die Intuition”: www.ethlife.ethz.ch/articles/tages/D2_Schicht1.html
(3) Oganov et al. (2005): Anisotropy of Earth’s D’’ layer and stacking faults in the MgSiO3 post-perovskite phase, Nature 438, 1142-1144.



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