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Rubrik: Tagesberichte |
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Kristallographie Durchbruch bei Strukturaufklärung |
Haben Kristallographen der ETH Zürich einen Gral der Wissenschaft entdeckt? Mit einem neuen Berechnungsverfahren ist es ihnen gelungen, die Struktur von Kristallgittern präzise vorauszusagen, ohne dass experimentelle Daten einfliessen. Kern der Geschichte ist ein ausgeklügeltes Rechenverfahren, das auf einem so genannten evolutionären Algorithmus basiert. Noch 1988 schrieb John Maddox, Chefredaktor der Fachzeitschrift „Nature“, es sei beinahe ein Skandal, dass bis dato niemand die Kristallstruktur von Materialien per Computer voraussagen könne. Nur zu gerne zitiert heute Artem Oganov vom Laboratorium für Kristallographie der ETH diese Passage aus einem der über 700 Nature-Editorials, die Maddox schrieb. Denn obwohl seit Maddox’ Aussagen 17 Jahre vergangen sind, hat es bisher noch niemand geschafft, Kristallstrukturen mit vernünftigem Aufwand an Computerleistung und Geld vorauszusagen. Zu komplex sind Strukturberechnungen von Kristallen, zu gross der rechnerische Aufwand. Selbst für Kristalle mit relativ wenigen Atomen pro Einheitszelle gibt es eine Unzahl von Möglichkeiten für Strukturen. „Die Komplexität ist astronomisch“, sagt Oganov. Struktur-Darwinismus Dem russischen Forscher ist es zusammen mit dem ETH-Studenten Colin Glass aber nun gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, das ein Ende von Maddox’ „Skandal“ ankündigt. Um die Kristallstrukturen zu finden, verwenden sie eine selbst entwickelte Software. Diese basiert auf einem so genannten evolutionären Algorithmus, welcher die Kristallstrukturen unter vorgegebenen Temperatur- und Druckverhältnissen findet. Der Computer braucht dazu nicht einmal mehr mit experimentellen Daten gefüttert zu werden, wohl aber mit der chemischen Zusammensetzung der gesuchten Struktur. Damit erzeugt das Programm neue Strukturen, bewertet diese, filtert schlechte aus und verwendet die Guten, um neue Strukturen zu erzeugen. Bis der Computer am Ende eine Kristallstruktur ausspuckt, die unter den vorgegebenen Bedingungen stabil ist. Diese Methode ist schneller und zuverlässiger als alles Bisherige. Sie braucht viel weniger Computer-Kapazitäten, und sie kann mehr Atome pro Kristalleinheit berücksichtigen. Und die Arbeit an dieser Methode ist noch längst nicht abgeschlossen. Oganov und Glass arbeiten derzeit mit Hochdruck daran, den Code zu verbessern, so dass in wenigen Monaten wesentlich grössere Strukturen vorausgesagt werden können. Die Wissenschaftler hoffen, dass sie mit dieser Methode bald Systeme berechnen, die hunderte oder sogar tausende von Atomen pro Einheitszelle enthalten. „Die Methode funktioniert für alle Typen von Kristallen, an denen wir interessiert sind und in fast 100 Prozent der Fälle“, hebt Oganov eine weitere Besonderheit hervor. Semesterarbeit gab Anstoss Speziell ist auch, dass wichtige Impulse von einem Studenten der ETH stammen: Colin Glass. Mit einer Semesterarbeit ist er ins Thema eingestiegen – und dran geblieben. Oganov lobt ihn als genialen Kopf, der den Computercode in eigener Regie entwickelt habe. Allerdings hätte es viel Denkarbeit beider Beteiligten gebraucht. Acht Monate tappten die Forscher im Dunkeln und erhielten keine brauchbaren Resultate. Danach hätten sie neue Ideen entwickelt und plötzlich habe das System funktioniert, sagt Oganov. Mit der neuen Methode ist es Oganov zum Beispiel gelungen, in kurzer Frist die Kristallstruktur von Kalziumkarbonat vorauszusagen, wenn dieses unter hohen Druck kommt. Dieser Vorgang findet dort statt, wo sich die Platten der Erdkruste unter andere schieben und in den heissen Erdmantel abtauchen. Kalziumcarbonat ändert unter den Druck- und Temperaturbedingungen des oberen Erdmantels seine Phase und wird zu Aragonit. Unter noch stärkeren Drucken wird daraus Post-Aragonit.
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Dass dieses stabil ist, war bereits bekannt. Doch dessen Kristallstruktur war bisher weder durch Experimente noch durch traditionelle Berechnungen zu bestimmen. Mit dem neuen Rechenverfahren kann nun Oganov diese Wissenslücke schliessen. Die Ergebnisse werden Anfang 2006 in „Earth and Planetary Science Letters“ (1) veröffentlicht. Das neue Simulations-Verfahren der beiden Kristallographen öffnet die Türe für Anwendungen in Pharmazie, der Herstellung besonders harter Werkstoffe, aber auch bei der weiteren Erforschung der geophysikalischen Vorgänge im Erdinneren. Erste Kontakte mit der Industrie sind bereits geknüpft.
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