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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 21.05.2003 06:00

Lord Robert May zur mathematischen Biologie
Mathematik als wertvolles Instrument

Mathematik sei die Art klar zu denken, meint Lord Robert May von Oxford. Im Interview mit ETH Life äussert sich der Keynote-Speaker des Latsis-Symposium (1), das diese Woche an der ETH stattfindet, zur Bedeutung der mathematischen Biologie.

Interview: Christoph Meier

Lord May, Sie sind Keynote-Speaker am Latsis-Symposium zum Thema “Evolution, Immunity and Infectious Disease”. Auf was werden Sie den Schwerpunkt bei Ihrem Vortrag legen?

Vor rund 40 Jahren prägte der US Surgeon General (2) folgenden Satz, der die damals weit verbreitete Meinung von Medizinern spiegelt: „Die Zeit ist reif, um das Buch der Infektionskrankheiten zu schliessen.“ Diese Einschätzung war nicht nur unglaublich beschränkt, indem sie die schrecklichen Folgen der Infektionskrankheiten in den Entwicklungsländern ignorierte, sondern sie war auch zutiefst töricht in Bezug auf die mögliche Zukunft der entwickelten Staaten, wenn man damals die Geschichte dieser Krankheiten betrachtete. Zudem zeigten in den folgenden Jahrzehnten zuerst HIV/AIDS - und hoffentlich weniger ausgeprägt SARS - wie verrückt diese Ansicht war.

Ein Vermächtnis von der Sichtweise des US Surgeon General war aber schon in der Folgezeit, dass sich kein grösseres Verständnis für nichtlineare dynamische Prozesse entwickelte, welche die Beziehung zwischen Populationen von infektiösen Agenzien – seien es Viren, Bakterien, Protozoen oder Helminthen - und ihren Wirten charakterisieren. Dies stand ganz im Gegensatz zu den grossen Erfolgen beim Verständnis der molekularen Interaktionen zwischen einem einzelnen Virus und den einzelnen Zellen des Immunsystems.

In meinem Vortrag werde ich darüber sprechen, wie wir heute zunehmend besser verstehen, wie einerseits die Dynamik der Krankheitsübertragung und –kontrolle funktioniert und andererseits, wie Virenpopulationen mit Populationen von Abwehrzellen interagieren. Spezielle Aufmerksamkeit werde ich den Effekten schenken, die durch die Heterogenität der Übertragungsprozesse zustande kommen. Als Beispiel sei die Rolle der „Superverbreiter“ bei Krankheiten mit sexueller Übertragung erwähnt. In einem allgemeineren Teil werde ich auch über einige der Intuition widersprechenden Phänomene berichten, die geschehen, wenn man sich mit komplexen und heterogenen Kontaktnetzen befasst, in denen sich Infektionen ausbreiten.

Die Immunologie befasste sich bisher nur marginal mit der Evolution. Wie stark können der Immunologie entsprechende mathematische Modelle helfen?

Das sind eigentlich zwei Fragen. Als erstes geht es darum, wie weit mathematische Modelle die oben erwähnten Interaktionen zwischen Viruspopulationen und Populationen von Abwehrzellen beschreiben können, also das Funktionieren des Immunsystems. So wissen wir beispielsweise immer noch wenig darüber, warum es zwischen der Infektion mit HIV und dem Ausbruch von AIDS so lange dauert. Ich glaube, dass Modelle für die nichtlineare Dynamik auf Stufe der interagierenden Populationen eine kleine, aber nicht zu unterschätzende Rolle spielen, wenn wir das Phänomen von HIV/AIDS insgesamt verstehen wollen. Wenn die Immunologie zu einer reiferen Disziplin geworden ist, werden auch mathematische Modelle, basierend und getestet gegen experimentelle Fakten, wichtiger werden, wie wir das von den etablierteren Disziplinen wie Physik und Chemie kennen.

Bei der zweiten Frage geht es darum, wie weit mathematische Modelle helfen, evolutionäre Aspekte sowohl der Krankheitsübertragung als auch der Funktionsweise des Immunsystems zu verstehen. Auch hier stehen wir erst am Anfang. Bis vor kurzem war die gängige Meinung in medizinischen Texten, dass ein erfolgreicher Erreger längerfristig zu zunehmender Harmlosigkeit evolviert. Diese Sichtweise basierte auf naiven und sachlich falschen Ideen über die Gruppenselektion. Eine ausgefeiltere Analyse ergab, dass ein neu auftretendes infektiöses Agens über die Zeit harmloser oder schädlicher werden kann, aber gelegentlich auch gleich bleibt. - Es hängt davon ab, wie die komplexen Details der Übertragbarkeit mit dem Schaden beim Wirt zusammenhängen.

Wie Sie selbst erwähnt haben, befassten Sie sich in Ihren Arbeiten mit der Ausbreitung von HIV. Ergeben sich daraus praktische Konsequenzen?

Zusammen mit meinen Kollegen Roy Anderson war ich der Erste, der Schätzungen zum demografischen Effekt in Afrika von HIV/AIDS publizierte. Leider erwies sich unsere Schätzung als richtig, obwohl sie damals von der WHO und vom Weltbevölkerungsrat als zu pessimistisch kritisiert wurde. Wäre unsere Schätzung unmittelbar akzeptiert worden, hätten effektive Massnahmen etwas früher ergriffen werden können. Allgemein kann sicher gesagt werden, dass die Arbeit von Anderson und mir zusammen mit vielen anderen hilfreich war, um die basalen biologischen und Verhaltensfaktoren besser zu verstehen, welche die epidemiologischen Muster von HIV/AIDS beeinflussen. Damit kann man auch die relative Effizienz verschiedener Interventionen besser einschätzen. Der wichtigste Faktor jedoch - der auch die Länder, die ihre Arbeit in Bezug auf Kontrolle und Einschränken der Epidemie getan haben, von den anderen wie zum Beispiel Südafrika unterscheidet - bezieht sich mehr auf ein starke Übereinstimmung, dass das spezielle Interesse den „Knoten des Netzes“ gelten sollte, welche die höchste Kontaktrate aufweisen.

Sie sind einer der führenden mathematischen Biologen. Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Grenzen der mathematischen Beschreibbarkeit der Natur?

Einstein sprach einmal von der „unvernünftigen Wirksamkeit der Mathematik“ bei der Beschreibung, wie die natürliche Welt funktioniert. Ob man von grundlegender Physik, der zunehmenden Wichtigkeit der Umweltwissenschaften, oder der Übertragung von Krankheiten spricht, Mathematik ist nicht mehr und nicht weniger als die Art klar zu denken. In dieser Weise war sie und wird sie immer ein wertvolles Instrument sein - wertvoll aber nur, wenn sie Teil eines grösseren Arsenals ist, das analytische Experimente umfasst und vor allem eine weitreichende Phantasie.

Welche bedeutenden Erkenntnisse kamen aufgrund der mathematischen Biologie zustande?

Aus Zeitgründen will ich nur das Beispiel der Wissenschaftsdiziplin „Chaos“ nennen, die von der mathematischen Biologie geprägt wurde. Die neue Disziplin erkennt, dass wir, auch wenn rigide deterministische Regeln oder Gesetze vorhanden sind, nicht fähig sind, in der Praxis nützliche Voraussagen zu machen. Das geschieht, weil das dynamische Funktionieren nichtlinearer Systeme in vielen Fällen sich so verhält, dass es nicht unterschieden werden kann von zufälligen Prozessen.


Spricht am Latsis-Symposium zum Thema "Networks of contact, and their influence on the population biology of infections": Lord Robert May of Oxford. gross

Schaut man die Entwicklung an, so kann gesagt werden, dass die Anfänge für das Erkennen chaotischer Systeme zurück im 19. Jahrhundert liegen. Eine grössere Aufmerksamkeit entstand durch Lorenz' Arbeit über eine vereinfachte Metapher (ein dreidimensionales System von Differentialgleichungen für meteorologische Systeme). Es war dann aber die Einsicht in das chaotische Verhalten der einfachsten eindimensionalen Differentialgleichungen, die im Kontext ökologischer Studien der theoretischen Biologie verwendet wurden, die das Chaos in den 1970er Jahren ins Rampenlicht rückten. Es ist schon erstaunlich, dass die Fokussierung auf kontinuierliche Systeme während mehreren Jahrhunderten es uns ermöglichte, den einfachen Konsequenzen von nichtlinearen Differential-Gleichungen erster Ordnung zu entgehen. Noch bemerkenswerter ist aber, dass diese Einsicht aus den Reihen von Ökologen - Jim Yorke, George Oster, ich und andere - kam, die solche Gleichungen im praktischen Umfeld der Probleme in der Populationsbiologie untersuchten.

Sie engagieren sich auch stark im Bereich des Umweltschutzes. Wie prekär ist die Lage aufgrund ihrer Modelle?

Man braucht keine mathematischen Modelle, um über die abnehmende biologische Diversität alarmiert zu sein. Global betrachtet nahm im letzten Jahrhundert die geschätzten Rate, mit der Vogel- oder Säugerarten aussterben, um das Tausendfache zu, wenn man vergleicht mit der durchschnittlichen Aussterberate während der 600 Millionen Jahre, die mit Fossilien dokumentiert sind. Das ist eine Zunahme der Aussterberate, wie wir sie sonst bei den fünf grossen Massenaussterben innerhalb der Fossilfunde sehen. Das bedeutet aber nicht, dass wir ein schnelles Aussterben eines beachtlichen Teils aller Arten in den nächsten Jahrzehnten sehen werden. Vielmehr werden sich die momentanen und wahrscheinlich zunehmenden Aussterberaten sich erst auf einer Jahrhunderte-Skala bemerkbar machen. Doch machen wir keine Fehler: Wir stehen auf der brechenden Spitze der sechsten grossen Aussterbewelle in der Erdgeschichte. Diese Folgerungen gründen auf einfachen Beobachtungen, verbunden mit eher wissenschaftlichen Argumenten, welche die heute „angenommene Lebenserwartung einer Spezies“ mit der vergleicht, die man im Durchschnitt von den Fossilien kennt.

Glauben sie daran, dass antizipierte Risiken das Verhalten der Politiker und der Bevölkerung verändern können?

Eines der grössten und wichtigsten ungelösten Probleme der Evolutionsbiologie besteht darin, wie altruistisches Verhalten sich entwickelt und erhält. Es mag offensichtlich sein, dass man als Gruppenmitglied Gefallen daran finden kann, wenn ein kleiner individueller Preis zu einem viel grösseren Gruppennutzen führt. Aber die Schwierigkeit sind die „betrügerischen Individuen“, welche die Vorteile der Gruppe ausnützen, ohne etwas dafür zu leisten. Indem sie so ihren Aufwand einschränken können, erreichen sie einen evolutionären Vorteil, sprich sie können mehr Energie für Nachkommen investieren. Betrügerisches Verhalten wird möglicher weise somit auf Kosten des Gruppennutzens prosperieren. Wenn man sich nur mit einer kleinen Gruppe Verwandter abgibt, kriegt man das Problem in den Griff. Hat man aber eine grössere Gruppe, wie man sie beim Menschen findet, dann funktioniert das nicht in dieser Weise. Möglicherweise kann man in diesem Rahmen anhand von Gesetzen und Regulierungen kooperatives Verhalten, wenn es einmal aufgetaucht ist, festhalten. Doch das ursprüngliche Auftauchen bleibt damit immer noch unverstanden.

In anderen Worten, wir verstehen nicht, wieso wir gegebenenfalls uns für ein gemeinsames Gut einsetzen sollten, vor allem wenn wir dafür noch etwas aufgeben sollten. Insofern ist also noch schwieriger zu verstehen, wie wir uns zusammen für die Zukunft einsetzen sollten. Der Klimawechsel entwickelt sich jedoch in einer Zeitskala von Dekaden, die Biodiversität verschwindet über Jahrhunderte und das Ernährungsproblem der immer noch wachsenden Bevölkerung ist heute noch nicht so drängend, wie es in 50 Jahren sein wird. Zusammenfassend gesagt sind wir heute aufgefordert zu handeln im Namen der Zukunft, nicht zuletzt weil in nichtlinearen Systemen kleine Aktionen von heute viel wichtiger sind als grosse Anstrengungen in der Zukunft. Bis jetzt haben wir noch kein fundamentales evolutionäres Verständnis, wie unser soziales System uns zusammen hält. Es ist also kein Wunder, das man mit Blick auf die Zukunft pessimistisch ist. Wir können zwar Risiken antizipieren, doch das bedeutet nicht, dass uns irgendwelche evolutionäre Erfahrung angepasst hat, um etwas gegen diese Gefahren zu tun, wenn deren Konsequenzen unter unserem persönlichen Horizont liegen.

Zum Schluss noch. Sie werden auf Vorschlag des Departements Umweltnaturwissenschaften zum Ehrendoktor der ETH ernannt. Was bedeutet ihnen diese Auszeichnung, und haben Sie eine spezielle Beziehung zur ETH Zürich?

Der Betreuer meines PhD an der Sydney University war Robbie Schafroth, der in den fünfziger Jahren Assistent bei Wolfgang Pauli an der ETH war. Schafroth war übrigens die erste Person, die beobachtete, dass ein Bose-Gas ein Supraleiter sein könnte. Das definierte das Problem der Supraleitung neu zur Frage, wie Elektronenpaare effektiv gebunden werden können in Supraleitern. Hätte er noch gelebt, hätte es die Gerechtigkeit gefordert, dass Schafroth den Nobelpreis mit Cooper und Schriefer geteilt hätte. Leider starb er jedoch zusammen mit seiner Frau bei einem Unfall mit einem Kleinflugzeug in Australien im Alter von 36 Jahren. Wäre das nicht geschehen, hätte ich ihn einige Monate später als Assistent an die Uni Genf begleitet. So veränderte sein Tod vollständig mein Leben, obwohl ich denke, dass er mich als wunderbarer Mensch und Wissenschaftler weiterhin prägte. Der Ehrendoktor von der ETH hat darum eine sehr spezielle Bedeutung für mich.


Fussnoten:
(1) Latsis Symposium 2003 "EVOLUTION, IMMUNITY AND INFECTIOUS DISEASE": www.eco.ethz.ch/latsis03/index.html
(2) Sprecher der USA bezüglich des öffentlichen Gesundheitswesens:www.surgeongeneral.gov/sg/default.htm



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