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ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 18.12.2003 06:02

200. Geburtstag: Anlass für eine Freilegung
Sempers Hochburg der Bildung

Vor 200 Jahren wurde der grosse Architekt Gottfried Semper geboren, erster Vorsteher der Bauschule und Erbauer der Sternwarte, die heute das Collegium Helveticum beherbergt, sowie des „Eidgenössischen Polytechnikums“. Im ETH-Hauptgebäude ist Sempers Wirken auf Schritt und Tritt lebendig, obwohl das Original durch Umbauten stark verändert wurde. „ETH Life“ begibt sich auf Sempers Spuren in Begleitung von Werner Oechslin, Semper-Spezialist und ETH-Professor für Kunst- und Architekturgeschichte.

Von Norbert Staub

Wo Semper baute, war immer mehr im Spiel als Stein und Mörtel. Dem Kern der Barockstadt Dresden gab er durch seinen souveränen Umgang mit antiken Vorbildern neuen Glanz, in Wien schuf er mit der Erweiterung der Hofburg und den Museumsbauten den städtebaulichen Nukleus für die Selbstdarstellung der Kaiser. In Zürich sprengte das von Semper geplante und 1860 in Angriff genommene Hauptgebäude des neu gegründeten Eidgenössischen Polytechnikums die bis dahin überschaubaren Dimensionen von öffentlichen Gebäuden. Zudem war die Bundeshochschule eine Manifestation von wissenschaftlichem Ehrgeiz im noch jungen Bundesstaat, und nach dem Berner Bundeshaus der bedeutendste Neubau der Schweiz.

Bahnbrechend für Zürich

Einen zusätzlichen Akzent setzte die über der Stadt thronende Lage des Polytechnikums. „Sie war die Initialzündung für einen gewaltigen Entwicklungsschub; für das Zusammenwachsen der Stadt mit dem Weiler Oberstrass und für dessen Entwicklung zum Stadtteil für Wissenschaft und Kultur“, erklärt Werner Oechslin, ETH-Professor für Architektur- und Kunstgeschichte, intimer Semper-Kenner und Mitherausgeber der neuen, umfassenden Monographie über dessen Wirken (1). Zürich, so Oechslin weiter, habe dank der ETH „den Schritt von der Provinzstadt zur Metropole vollzogen.“ Das symmetrisch angelegte Gebäude bereitete das Feld für den späteren Bau der Universität, die Anlage der Rämistrasse, das Unispital, das Kunsthaus – das, was heute auch als die „Kulturmeile“ der Stadt bezeichnet wird.

Fassaden als Botschafter

Oechslin weist auf Sempers raffinierte Verfahren hin, um die Botschaften, auf die es ihm ankam, sichtbar zu machen: Die vier Gebäudefronten widerspiegeln zwar die symmetrische, rechteckige Gesamtanlage, dennoch machen sie sehr unterschiedliche Aussagen: „Damit führen sie die Betrachter intuitiv zur Funktion des jeweiligen Gebäudeteils.“ Die der Stadt zugewandte Westfront zum Beispiel – „eine der wichtigsten Fassaden des 19. Jahrhunderts überhaupt“ – strahlt nach wie vor die Festlichkeit eines Palazzo aus.

Wünscht sich eine Abkehr vom Zufallsprinzip bei der Nutzung des Hauptgebäudes: Werner Oechslin, ETH-Professor für Architektur- und Kunstgeschichte gross

Wie konnte dieser so feudal wirkende Auftritt damals mit der traditionellen Schweizer – und zumal: der Zürcher – Zurückhaltung zusammengehen? „Auch das Bürgertum hatte Anspruch auf Repräsentation“, so Werner Oechslin. Denn die Hochschule sollte den republikanischen Stolz manifestieren, dass universitäre Bildung vom Privileg für wenige zum Allgemeingut geworden war.

Zudem seien Poly und Landesmuseum aus damaliger Sicht als durchaus hauptstädtische Signale zu verstehen. „Man wollte Zürich zur Kapitale von Geist und Kultur machen.“ Nicht zu vergessen ist, dass der Neubau zu Beginn neben der Bundeshochschule auch die kantonale Universität beherbergte – also sozusagen als Repräsentation für das Gesamte der Wissenschaft zu fungieren hatte.

An der Antike orientiert

Diesen „politischen“ Anspruch zu demonstrieren, fiel also der Westfassade zu. Die Aufmerksamkeit zieht der mit prachtvollen korinthischen Säulen bestückte Zentralteil auf sich, im Fachjargon ein Risalit. Nicht zufällig, denn hier befanden sich die grossen Auditorien sowie Aula und Eingangsbereich, wo Semper sein Programm am deutlichsten formulierte.


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Symbolträchtige Architektur, bezeichnende Lage: Das von Gottfried Semper erbaute «Eidgenössische Polytechnikum» in einer Aufnahme von vor 1915. (Foto: Bildarchiv ETH-Bibliothek, Zürich) gross

So liess er zwischen den Eingängen, wo sich heute Gustav Gulls Haupthalle erstreckt, ein eigentliches Antikenmuseum einrichten, das nachdrücklich auf sein Ideal einer auf humanistischer Basis aufbauenden Ausbildung am Polytechnikum hinwies. „Aber nicht um Studierende und Besucher vor Ehrfurcht erstarren zu lassen, sondern um sie quasi beiläufig mit dem Schaffen der grossen antiken Vorbilder vertraut zu machen“, erklärt Werner Oechslin. Augenfällig wird dieses Motiv in der nach einem Semperschen Entwurf opulent ausgemalten Decke der Aula, die ursprünglich Ehrenraum und Audimax beider Hochschulen war („und heute leider ein Stiefkind“, so Oechslin). Dort gruppiert sich ein Zyklus allegorischer Verkörperungen von Wissenschaft und Kunst um den Sagenkreis der Pallas Athene, die griechische Göttin der Weisheit.

Entfremdete Nutzung

Der Südflügel „funktioniert“ heute natürlich nicht mehr als das, was er einmal war, nämlich als Zugang für die kantonale Universität. „Diese Fassade ist die nüchternste“, sagt Werner Oechslin. Ruhige, wieder an die griechische Antike angelehnte Strukturen und ein Portal mit dorischen Säulen strahlen dennoch Würde und Repräsentativität aus.

Der Eindruck ändert sich, wenn man von dieser Seite her das Gebäude betritt: Eine eingezogene Wand mit Vitrinen verschliesst heute das einstige Atrium und den direkten Zugang ins Innere. Die Besucher werden nach links und rechts über die Korridore geschickt – was den Sachverständigen schmerzt: „Dieses Lieblose und Behelfsmässige tut Sempers Werk Unrecht. Es signalisiert: das hier ist ein Hintereingang“, kritisiert Werner Oechslin und fügt eine Anregung an: „Wäre das bevorstehende Jubiläum nicht die Gelegenheit, um das Zufallsprinzip der Nutzung zu korrigieren und die alte Universitätsfront zum Beispiel als neuen Zugang zur ETH-Verwaltung zu interpretieren?“ Die Westfront, so Oechslin weiter, könnte ihren von Semper zugedachten Sinn zurückgewinnen, indem man die Sammlungen dort konzentriert.

Massive Eingriffe

Diese waren anfangs im Osttrakt untergebracht, der im Zuge des Umbaus unter Gustav Gull (1915 – 1924) völlig umgestaltet wurde. Vor dem heutigen ETH-Haupteingang stand ursprünglich, aus Sicherheitsgründen vom Hauptbau getrennt, das Chemiegebäude. Das heute dominierende Halbrund mit Audimax und Kuppel ist Gulls Werk. Dieser – behördlich verordnete – Eingriff hat die Gewichte des Semperbaus gravierend verschoben, indem er gleichsam „gedreht“ und seine Ausrichtung von der Stadt zum Zürichberg verschoben wurde. „Eine sehr schwierige Aufgabe“, hält Werner Oechslin fest, die Gull gut gelöst habe: „Man muss ihm eine hohe Sensibilität im Umgang mit dem Semper-Erbe attestieren.“

Der ganze Mensch

Der Rundgang endet in der Tannenstrasse vor der Nordfassade, die auch noch nach gut 150 Jahren geradezu extravagant wirkt: Sie ist reich verziert mit Emblemen für Kunst und Wissenschaft und mit Porträts von Michelangelo bis James Watt, nach Semper-Plänen ausgeführt in der Sgraffito-Technik. Die Darstellungen verweisen – einmal mehr – auf die Hoffnung, die Semper an diesen Bau knüpfte: „Dass man sich hier nicht auf eine einseitige technisch-naturwissenschaftliche Ausbildung beschränken soll, sondern auf breiter humanistischer Grundlage den ganzen Menschen ansprechen muss“, sagt Werner Oechslin. Sempers Überzeugung gipfelt in einem hier zentral angebrachten Spruch, dessen Radikalität ihm seinerzeit viel Kritik eingebracht hat: „Es wäre nicht wert, geboren zu werden, wenn nicht für Wissenschaften und Künste.“


Literaturhinweise:
Einen weiteren "ETH Life"-Artikel zu Gottfried Semper, insbesondere zu seiner Biografie, finden Sie unter: www.ethlife.ethz.ch/articles/tages/semper.html
Der 200. Geburtstag von Gottfried Semper ist auch Anlass für eine grosse Ausstellung im Zürcher Museum für Gestaltung. Diese läuft noch bis 25. Januar 2004. Siehe auch: www.museum-gestaltung.ch/

Fussnoten:
(1) Winfried Nerdinger, Werner Oechslin (Hgg.): Gottfried Semper (1803-1879). Architektur und Wissenschaft. Zürich und München 2003, gta Verlag/Prestel Verlag.



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