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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 11.10.2005 06:00

100. Jahrestag der Veröffentlichung "Die sexuelle Frage" von Auguste Forel
Auguste Forel und die Sexualität

1905 wurde das Buch „Die sexuelle Frage“ des Schweizer Psychiaters Auguste Forel veröffentlicht. Aus diesem Anlass fand im Zürcher Volkshaus der internationale Kongress mit dem spannenden Titel „Sexualität und Medien im 20. Jahrhundert“ statt. Der erste von zwei Tagen war Auguste Forel und der Wirkungsgeschichte seines Buchs gewidmet. Dazu hielt auch ETH-Professor Michael Hagner einen Vortrag.

Ursina Wirz

Wie haben die Medien die Sexualität beeinflusst? – dies eine der Hauptfragen des Kongresses im Volkshaus Zürich am 7. und 8. Oktober. Anlass der Konferenz war der 100. Jahrestag der Publikation von „ Die sexuelle Frage“ von Auguste Forel. Dieser allein gäbe zu wenig her für einen zweitägigen Kongress, meinte Philipp Sarasin, Professor an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich und Mitorganisator des Kongresses. Darum habe man sich mit dem Sprichwort „zwei Fliegen auf einen Schlag“ beholfen und die Behandlung der Entwicklung der Sexualität im letzten Jahrhundert und der Rolle der Medien in diesem Prozess thematisiert. Die Geschichte der medialisierten Sexualität im 20. Jahrhundert war vor allem Thema am Freitag, dem zweiten Tag des Kongresses.

Widersprüchliches Werk

Am Donnerstag lag der Fokus auf Auguste Forel selbst und den Folgen seines Buches. Zu Beginn gaben Jakob Tanner und Philipp Sarasin, Geschichtsprofessoren der Uni Zürich, einen Überblick über Forels Werk „Die sexuelle Frage“ und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Auguste Forel löste mit der Veröffentlichung 1905 eine Welle der Empörung aus, vor allem in kirchlichen Kreisen. Darin brach er mit christlichen Werten und vor allem mit der Sittlichkeitsbewegung, der er ein paar Jahre zuvor noch angehört hatte.

Nun aber schockierte er mit einem Buch, in dem er die völlige Gleichberechtigung der Geschlechter, Straffreiheit für das Konkubinat und die Möglichkeit der Ehe zwischen Homosexuellen forderte, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Geschlechtstrieb sei die grosse Naturtatsache und solle nicht unterdrückt werden. Gleichzeitig trug das Buch einen starken darwinistischen Zug. Forel vertrat die Meinung, dass sich nur „höherwertige“ Rassen fortpflanzen sollen, damit die Zahl der „Minderwertigen“ abnehme. Darum stand er auch ein für die freie Verfügbarkeit von Empfängnisverhütungsmitteln.

Michael Hagner im Volkshaus Zürich gross

„Aus der heutigen Sicht, ist das Buch Forels voller Widersprüche“, meint Philipp Sarasin. Zum einen war es sehr fortschrittlich - „Väter sollten aufhören, an einem veralteten und unnatürlichen Patriarchat festzuhalten“ (Forel forderte ein Matriarchat) - zum anderen aber hatte der Zürcher Psychiater eine eugenische Sichtweise, die ein Vermehren von „minderwertigen“ Rassen verurteilte und sogar Zwangssterilisationen forderte. Forels Gedankengut wurde deshalb später auch mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht. Dieser Bezug wurde jedoch von verschiedenen Seiten widerlegt.

Vom Einzelfall zur Verallgemeinerung

Michael Hagners Vortrag war der nächste Fixpunkt im Programm. Er ist seit 2003 Professor für Wissenschaftsgeschichte an der ETH.


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Der Schweizer Psychiater Auguste Forel (Bildarchiv ETH-Bibliothek, Zürich) gross

Es sei eine Premiere für ihn, über das Thema der Sexualforschung zu referieren; Forel komme in seinem Vortrag vor, sei aber nicht das „Epizentrum“, wie der Forscher zu Beginn gleich klarstellte.Das Zentrum seiner Ausführungen war der „Dippoldismus“, die historische Bezeichnung für Erziehersadismus, die aus der Verallgemeinerung eines Einzelfalles entstand. Hagner schilderte diesen Einzelfall ausführlich und erklärte, wie es dazu kam, dass dieser exemplarisch wurde für ein ganzes Krankheitsbild. Die Rolle der Medien sei dabei nicht zu vernachlässigen.

Verfälschungen

Die Geschichte spielte 1903. Eine Frau Koch, Gattin des damaligen Direktors der Deutschen Bank, stattete dem berühmten Nervenarzt Oskar Vogt einen Besuch ab und erzählte ihm, ihre Söhne seien schwer erziehbar und onanierten regelmässig. Darum habe sie einen Erzieher, Andreas Dippold, angestellt, der nun mit den Knaben auf das Land gezogen sei, um sie auf den rechten Weg zu bringen. Die Kinder aber mochten den Erzieher nicht und schrieben der Mutter sogar in einem Brief, Dippold sei ein „Schurke“. Vogt schöpfte bei einem Besuch keinen Verdacht und führte auch keine körperliche Untersuchung durch. Indem Vogt den Erzieher lobte, bestätigte er die Mutter in ihren Bemühungen.

Wenig später wurde der ältere Sohn tot aufgefunden: zu Tode gequält mit Schwellungen am ganzen Körper. Der Bruder berichtete daraufhin von unzähligen Misshandlungen. Im darauf folgenden Prozess, so Hagner, wurde der Verlauf der Geschichte verfälscht. Um die Familienehre zu retten, wurden die Söhne als unproblematische Knaben geschildert, die nie onaniert hätten. Die Masturbationen seien eine Fantasie Dippolds gewesen, um die Knaben zu züchtigen, wurde im Prozess festgehalten.

Medialer Disput

Der Prozess löste in den Medien eine starke Reaktion aus. Die Eltern und Vogt wurden harsch kritisiert für ihre Untätigkeit dem Erzieher gegenüber, woraufhin Vogt in der Fachpresse einen Artikel veröffentlichte, mit der Erklärung, die Mutter Koch hätte ihn getäuscht. Vogt war der Presse gegenüber sehr kritisch gesinnt: „Mit der Tagespresse sich zu befassen ist nicht jedermanns Sache“. Das Verhältnis zwischen der Wissenschaft und den Medien war schon damals sehr ambivalent. „Sobald die Presse nicht kooperierte, wurde das Verhältnis sofort aufgehoben“, erklärte Hagner.

An dieser Stelle kam Forel ins Spiel. Er stellte Dippold als Schwindler und Vogt als glaubwürdigen Wissenschaftler dar. Forels Diagnose Dippolds war: Homosexualität und Sadismus. Dippold hätte alle Beteiligten getäuscht und er gehöre lebenslänglich eingesperrt. So überging Forel geschickt den Widerspruch Eltern – Vogt und sicherte damit seinen eigenen Ruf, hielt Michael Hagner fest. So wurde der öffentliche Fall Dippold zu einem wissenschaftlichen Fall Dippold, der Vorfall zu einem „Fall“. Forel erwähnte diesen in seinem Buch „Die sexuelle Frage“ im Kapitel über Homosexualität. Diese sei nämlich nicht gefährlich im Erwachsenenalter, aber Minderjährige sollen davor geschützt werden.




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