ETH Life - wissen was laeuft

Die tägliche Web-Zeitung der ETH Zürich - in English

ETH Life - wissen was laeuft ETH Life - wissen was laeuft
ETH Life - wissen was laeuft
Home

ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Tagesberichte
English Version English Version
Print-Version Drucken
Publiziert: 20.06.2003 06:00

Albert A. Stahel zur Lage in Afghanistan
"Kabul ist immer noch zerstört“

Als die Amerikaner vor anderthalb Jahren die Taliban-Regierung in Afghanistan stürzten, hoffte man auf einen raschen Wiederaufbau. Davon sei heute nichts zu sehen, urteilt Albert A. Stahel. Der Dozent an der Militärakademie an der ETH Zürich (1) befasst sich seit den 80er Jahren mit Afghanistan und schuf sich durch seine Reisen ins Land viele persönlichen Kontakte. Im Interview mit ETH Life nimmt er eine Einschätzung der Lage vor, bei der er sich auf seine Eindrücke bei der jüngsten Reise stützt.

Interview: Christoph Meier und Norbert Staub

Herr Stahel, mit welchem Ziel gingen Sie nach Afghanistan?

Unsere Gruppe hatte zwei Ziele: Einerseits interessierte uns die politische und wirtschaftliche Situation vor allem im Raum Kabul aber auch in der Stadt Herat. Andererseits wollten wir uns auch ein Bild vom Gesundheitswesen machen. Darum befanden sich auch Ärzte von der Ostschweizer Afghanistanhilfe im Team.

Was waren denn die wichtigsten Beobachtungen?

Da ist einmal die erschreckende Tatsache, dass Kabul immer noch zerstört ist. Die Zerstörung ist die Folge des Bürgerkrieges von 1993/94. Ein Wiederaufbau ist nicht wirklich sichtbar. Natürlich ist es positiv, dass Mädchen in die Schule und Frauen an die Universität gehen. Doch man muss auch sehen, dass die Gesellschaft sehr archaisch ist und auf der Strasse immer noch die Burka getragen wird.

Wo versickern die 6 Milliarden Dollar Hilfsgelder?

Da gilt es zuerst zu beachten, dass erst eine Milliarde ausgeliefert wurde. Das genügt aber nicht, wenn man das Land sanieren will. Da bräuchte man wahrscheinlich 100 Milliarden. Sehen wir von der Stromversorgung ab, ist es so, dass Strassen, Wasserversorgung, Gesundheitswesen in einem miserablen Zustand sind. So werden zum Beispiel Geisteskranke an Betten angekettet, oder Drogensüchtige werden zur Entgiftung sechs bis sieben Tage in Räume gesperrt.

Was ich an Aufbau beobachten konnte, geht auf private Initiativen zurück. So ist mein alter Freund Hakimi daran, den königlichen Sommerpalast wieder aufzubauen, der von den Taliban zerstört wurde. Frustrierend ist aber, dass man gar nicht viel brauchen würde für den Wiederaufbau.

Gibt es für Sie ein typisches Erlebnis der Reise, dass die momentane Situation in Afghanistan dokumentiert?

Wir trafen vier Mal mit Ismael Khan zusammen, der als Gouverneur die Provinz von Herat kontrolliert. Er gilt im Westen als Kriegsherr, da er im Gegensatz zum Präsidenten Hamed Karzai nicht am Gängelband der Amerikaner ist. Ich bin nicht von ihm geblendet, aber ich bin überzeugt, dass er der Typ Afghane ist, den das Land braucht. Er schafft es zumindest, seine Stadt und Provinz gut zu verwalten

Sie haben einmal in einer Diskussion zum Irakkrieg Afghanistan als Beispiel hingestellt für das Scheitern einer amerikanischen Militärinterventionen. Sehen Sie das immer noch so?

Die Amerikaner führen in Afghanistan immer noch Krieg. Auch wenn sie im Dezember 2001 offiziell gesiegt haben, ist die Intervention nicht beendet, da sie nicht abgeschlossen ist. Momentan haben sie zwei grosse Stützpunkte im Land. Die Ablehnung gegen sie und die internationale Schutztruppe ISAF wächst aber täglich.

Gibt es aber auch positive Seiten?

Positiv ist sicher, dass die Al-Kaida zum Teufel gejagt und die Taliban zu Fall gebracht wurden. Danach hätte man aber für konkrete Aufbauprojekte sorgen müssen. Statt weiter Al-Kaida nachzujagen, hätte man Strassen bauen können. Schon ein Geniebataillon könnte einiges bewirken.

Das wissen die Amerikaner doch auch?

Ja, und darum ist es tragisch.

Hat der Irakkrieg die Stimmung gegenüber den Amerikanern verschlechtert?

Nein, der Irakkrieg hat mit Afghanistan direkt nichts zu tun. Die Afghanen wären einfach froh, wenn sie selbst weiterkommen könnten.


"Ja, das Gefühl, Afghane zu sein, das ist vorhanden", meint Albert A. Stahel. gross

Kann man aber aus Afghanistan Lehren ziehen für den Wiederaufbau im Irak?

Ja, so sollte man nicht wieder Strohmänner dem Volk vor die Nase setzten und dann hoffen, dass es funktioniert - vor allem mit so wenig Geld. Man braucht von Anfang an ein Konzept.

Die Amerikaner setzen jetzt in Afghanistan auf so genannte Provincial Reconstruction Teams (PRT). Was halten sie von dieser Form des Wiederaufbaus unter Militärschutz?

Das braucht es nicht. Man braucht Strassen, und ein funktionierendes Gesundheitssystem.

Sind denn Ausländer, die aktiv am Wiederaufbau mitarbeiten, nicht gefährdet?

Nein, wenn sie etwas leisten, besteht keine Gefahr.

Gilt das auch für die humanitären Organisationen?

Ausser im östlichen Grenzgebiet zu Pakistan brauchen diese keinen Schutz. Dorthin müssen sie aber auch gar nicht gehen, sondern dahin, wo die Mehrheit der Afghanen lebt. Apropos Gefährdung: Als ich im Panjshir-Tal, das vor Waffen strotzt, unterwegs war, sah ich Vertreter von NGOs beim Sonntagsausflug im Fluss baden, obwohl es dort keine ISAF gibt.

Sie schreiben in der „Sonntagszeitung“, dass die Produktion von Schlafmohn um ein Mehrfaches gestiegen sei. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Einerseits kann ich mich auf Zeugen berufen, andererseits kann man es aus der Luft beobachten. So hat im Raum von Jalalabad der Anbau stark zugenommen. Aus politischen Gründen wird nichts unternommen. Denn nach einem Stopp käme es zum Krieg mit den Drogenhändlern.

Wie wichtig und präsent sind eigentlich die Taliban noch?

Wenn man von der Organisation spricht, so gibt es sie nicht mehr. Doch bezieht man sich bei der Frage auf die einzelnen Personen, dann sind sie immer noch präsent. Ich kenne jemanden, der früher bei den Taliban war und heute als Geschäftsmann in Kabul arbeitet. In dieser Beziehung verhält sich zum Beispiel die Volksgruppe der Paschtunen häufig opportunistisch.

Afghanistan nennt sich offiziell „Transitional Islamic State of Afghanistan“. In dieser Form soll das Land vorläufig bis nächstes Jahr existieren. Haben Sie eine Idee, wie es dann weitergehen soll?

Wenn man die Loya Jirga – die Vereinigung der Notabeln des Landes - nicht noch einmal manipuliert, dann wird die Regierung von Karzai nicht wieder gewählt werden. In einer langen Diskussion von ein bis zwei Monaten könnte sich eine Loya Jirga durchaus auf eine neue Regierung einigen. Das letzte Mal war die Dauer der Versammlung einfach viel zu kurz, so dass sich die Leute noch heute betrogen fühlen.

Sie glauben also an die Einigungsmöglichkeit?

Ja, das Gefühl, Afghane zu sein, das ist vorhanden. So fühlt sich ein Paschtune in diesem Land als Afghane, obwohl die Mehrheit der Paschtunen in Pakistan wohnt. Wenn man den Afghanen die Chance gibt, dann finden sie eine Führung. Das haben sie auch schon einige Male gemacht, wie es das Beispiel von Ahmad Shah Durrani zeigt, der den ersten afghanischen Staat 1747 gründete.


Fussnoten:
(1) Militärakademie an der ETH Zürich: www.milak.ethz.ch



Sie können zu diesem Artikel ein Feedback schreiben oder die bisherigen lesen.




!!! Dieses Dokument stammt aus dem ETH Web-Archiv und wird nicht mehr gepflegt !!!
!!! This document is stored in the ETH Web archive and is no longer maintained !!!