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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 27.03.2003 06:00

Intverview mit ETH-Professor Andreas Wenger
„Die nächsten Tage sind entscheidend“

Nach einer Woche ist die amerikanisch-britische Koalition zwar weit in den Irak vorgestossen. Sie trifft aber trotz haushoher Überlegenheit auf erbitterten Widerstand und muss vereinzelt Rückschläge einstecken. In den bevorstehenden Gefechten um Bagdad wird sich weisen, wie lange der Krieg noch dauern wird. Analysen von Andreas Wenger, ETH-Professor für Sicherheitspolitik.

Interview: Norbert Staub

Herr Wenger, seit einer Woche führen Amerikaner und Briten Krieg gegen Irak. Die anfängliche Selbstsicherheit der Koalition scheint verflogen. Welche vorläufige Bilanz ziehen Sie?

Andreas Wenger:

Der Krieg begann überraschend und früher als geplant mit einer „decapitation attack“, dem Versuch, die Führungsstrukturen ins Mark zu treffen, um so einen Feldzug möglichst kurz zu halten. In der Folge entwickelte sich der von Süden ausgehende Vormarsch der Amerikaner und Briten im grossen und ganzen schnell und planmässig – allerdings nicht ohne hartnäckigen Widerstand durch paramilitärische Kräfte und Widerstandsnester regulärer Truppen. Allen, auch den Irakern ist völlig klar: die materiell und technologisch weit überlegenen britisch-amerikanischen Streitkräfte sind mit konventionellen Mitteln nicht zu schlagen. Es überrascht nicht, dass Saddam Hussein deshalb – und auch aufgrund der Erfahrung des ersten Golfkriegs 1990/91 – eine asymmetrische Strategie verfolgt.

Was heisst das?

Er versucht so lange wie möglich, seine Truppen der direkten Konfrontation zu entziehen. Gleichzeitig verwischt die irakische Seite die Grenzen zwischen Militärs und Zivilisten bewusst. Der Gegner soll mit Nadelstichen aus den Städten heraus verunsichert werden, etwa mit „Hit and run“-Aktionen, die Nachschublinien bedrohen oder den Vorstoss verzögern. Deren Botschaft lautet: „Wir sind nicht ganz schutzlos und können uns wehren“.

Dann hat die irakische Reaktion auf den Einmarsch also auch eine gewichtige politische und psychologische Komponente?

Ja, eindeutig. Saddam Husseins betont kämpferische und selbstsichere Auftritte seit Kriegsbeginn - ob echt oder nicht - sollen zeigen, dass er weiterhin die volle Kontrolle hat. Und die Bilder von amerikanischen und britischen Soldaten, die gefangen oder getötet wurden, sollen dem Gegner klar machen, dass jeder seiner Fehler ausgenutzt wird. Bekanntlich schreckt Saddam Hussein dabei auch nicht vor der Inkaufnahme eigener ziviler Opfer zurück. Sein Ziel ist es, den Abwehrkampf in die Städte hineinzutragen – nicht nur, um die Koalition in den gefürchteten Häuserkampf zu verwickeln, sondern auch, um den Krieg als eine Art neue Intifada gegen den von den USA angeführten Westen auszuschlachten. Man darf die Rolle des verletzten Stolzes nicht unterschätzen. Und die Situation „David gegen Goliath“ hat in der arabischen Welt bereits zu einer Solidaritätswelle geführt.

Auch im Westen und in anderen Teilen der Welt scheint der Unmut in der Bevölkerung gegen den Einmarsch gross. Hat George W. Bush sich in Bezug auf die Unterstützung für seine Politik verkalkuliert?

Er zahlt jetzt den Preis für das Fehlen eines UNO-Mandats für den Feldzug. Zudem büsst er dafür, dass er sich bisher kaum für eine echte Lösung des Palästina-Problems engagiert hat. Stattdessen hat er kurz vor Kriegsbeginn die neokonservative Vision von Demokratie und Pluralismus im Irak und im gesamten Mittleren Osten skizziert. Damit stiess er auf Ablehnung bei den alles andere als demokratischen Regimes der Region. – Verständlich, denn Demokratie nach westlichem Muster würde deren Machtposition in Frage stellen. Mit einer realistischeren Politik, wie sie innerhalb der Bush-Administration zum Beispiel Aussenminister Powell vertritt, wäre bei den arabischen Staaten weniger Geschirr zerschlagen worden. Für Powell muss der Irak aus Stabilitätsgründen auch nach diesem Krieg eine starke Zentralgewalt und eine starke Armee haben, und die tradierten tribalen Strukturen sollen berücksichtigt bleiben.

US-Militärs beteuern immer wieder, dass mit ihren Präzisionswaffen nur militärische Ziele ins Visier genommen und zivile Opfer vermieden würden. Was meinen Sie dazu?

Tatsache ist, dass die US-Waffentechnologie seit dem letzten Golfkrieg noch einmal einen grossen Sprung gemacht hat. Damals wurden etwa zehn Prozent der Luftangriffe mit Präzisionswaffen geflogen, heute sind es, zumindest in der Anfangsphase, über 90 Prozent. Aber letztlich sind es Menschen, die definieren, was ein „militärisches Ziel“ ist; und immer stellt sich auch die Frage, ob sich noch jemand in den bombardierten Gebäuden befindet. Einen sauberen Krieg gibt es nicht.


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Dominiert auch in den Medien: der Irak-Krieg gross

Die Bombardierungen und Gefechte betreffen mehrere Ballungszentren im Land. Wo wird Ihrer Meinung nach der Krieg entschieden werden?

In Bagdad. Dorthin haben sich die 70'000 bis 90'000 Mann umfassenden Eliteeinheiten des Regimes, die so genannten Republikanischen Garden und die Speziellen Republikanischen Garden, zurückgezogen. Sie sind die am besten ausgerüsteten Truppen des Landes und Saddam Hussein treu ergeben. Die grosse Frage ist jetzt, wie loyal sie unter alliiertem Druck bleiben werden.

Gestern sollen bei Kämpfen etwa 160 Kilometer südlich von Bagdad mehrere hundert irakische Soldaten umgekommen sein. Ist das nun der Beginn dieses Entscheidungskampfs?

Ich denke ja. Bereits seit drei Tagen gibt es Gefechte in der sogenannten "roten Zone", dem ersten Verteidigungsring um Bagdad. Dort ist die Medina-Divsion, eine der erwähnten irakischen Eliteeinheiten, stationiert. Teile einer weiteren Division scheinen sich zudem in Richtung von Al Kut zu bewegen. Die kommenden Tage sind entscheidend. Sie werden Aufschluss darüber geben, wie es um die Kampfkraft und den Widerstandswillen von Saddams besten Verteidigungskräften steht. Und dies wird Rückschlüsse auf die Länge dieses Krieges ermöglichen. Die Koalition hat denn auch ihre Luft-Strategie geändert und konzentriert ihre Bombenangriffe jetzt auf die Republikanischen Garden.

Wenn Saddam Husseins konventionelle Mittel einmal ausgeschöpft sind: Muss befürchtet werden, dass er dann B- und C-Waffen einsetzt?

Man muss jedenfalls mit der Möglichkeit rechnen. Die Nervosität der Koalition in diesem Punkt wächst täglich. Aber Saddam Hussein weiss auch, dass ein B- oder C-Waffeneinsatz ein grosses politisches Risiko in sich trägt. Der Welt würde so schlagend bewiesen, dass die Intervention der USA und Grossbritanniens eben doch gerechtfertigt ist. Zudem würde das Regime damit den Goodwill, den es in der arabischen Welt noch hat, vollends verspielen.

Im Norden hat sich die Situation mit der Drohung der Türkei, einzumarschieren, unerwartet zugespitzt. Können die Alliierten diesen zusätzlichen Krisenherd unter Kontrolle halten?

Wir haben dort in der Tat eine sehr gefährliche Situation. Den Aufbau der von den Alliierten erhofften Nordfront hat die Türkei bisher verhindert. Das Land steht jetzt unter riesigem innen- und aussenpolitischem Druck. Es gibt türkische Stimmen, die sagen, mit der Absage an den einzigen wirklichen westlichen Partner USA habe man die Chance der Integration in die Erste Welt verspielt. Zudem seien die USA jetzt gezwungen, stärker mit den kurdischen Peschmerga im Nordirak zu kooperieren – was einer Provokation der Türkei gleichkommt. Diese würde nur schon Anzeichen der Vision eines unabhängigen Kurdistan als Kriegsgrund werten. Diesen grossen Spannungen zum Trotz herrscht in dem Gebiet derzeit eine geradezu gespenstische Ruhe.

Zur UNO: Wie stark ist der Schaden, welcher den Vereinten Nationen durch den Alleingang von Bush und Blair zugefügt wurde?

Die Spaltung des Sicherheitsrates hat sie kurzfristig sicher geschwächt. Ich denke aber, es ist entscheidend, dass die UNO an einer Nachkriegslösung für Irak führend beteiligt ist. Die USA müssten gerade angesichts der Underdog-Reflexe in der arabischen Welt an einer schnellen Internationalisierung der Irakfrage interessiert sein. Die Briten arbeiten derzeit in diese Richtung: sie bereiten UNO-Resolutionen vor, welche die humanitäre Hilfe und die irakische Zivilverwaltung unter UNO-Hoheit stellen wollen.




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