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Menschliche und soziale Aspekte der GAMM-Tagung Die "Underground"-Mathematiker |
Die GAMM-Tagung aus zwei unüblichen Sichtweisen: Kostenlos übernachten im ETH-Bunker und ein Engagement für den Brückenschlag zwischen den Fachdisziplinen. Von Richard Brogle und Jakob Lindenmeyer Im Rahmen der Tagung der Gesellschaft für Angewandte Mathematik und Mechanik (GAMM) trafen sich diese Woche an der ETH 814 Ingenieure und Mathematiker aus aller Welt um Brücken zu schlagen zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen. Ungewohnt für die ETH sind die über 100 Teilnehmenden aus osteuropäischen Ländern, wie Russland oder der Ukraine. Mit dem Kurzporträt eines engagierten ETH-Tagungsteilnehmers (siehe Kasten) sowie einem Erlebnisbericht von der Übernachtung im ETH-Bunker geht ETH Life im dritten und letzten Teil der GAMM-Berichterstattung mehr auf die menschlichen und sozialen Aspekte dieser Mammut-Tagung an der ETH ein. Drei Tage im Zug unterwegs Hier muss es sein. Ich stehe vor einem Schild mit der Aufschrift "Shelter" am Eingang zum Luftschutzraum des Rechenzentrums. Hier sind Konferenzteilnehmer der GAMM untergebracht, die kein erschwingliches Hotel gefunden haben. Um sieben Ecken gelange ich schliesslich in den Aufenthaltsraum. Ich setze mich zu einer Gruppe von Männern, die gerade ihr Abendbrot verspeisen und sich in einer fremden Sprache unterhalten. Alle Esswaren sind in kyrillischer Schrift angeschrieben. Um Geld zu sparen, haben einige Teilnehmer ihr Essen aus der Heimat mitgebracht. Sofort bieten sie auch mir davon an. Obwohl ich gerade in der ETH-Mensa gegessen habe, nehme ich auch ein bisschen Brot, um die Gastgeber nicht zu brüskieren. Alle sprechen recht gut Englisch; schon bald erzählen sie mir von ihrer Anreise. Während der russische Forscher mit dem Flugzeug gekommen ist, sind die Ukrainer mit der Bahn angereist: "Wir sind drei Tage unterwegs gewesen." Dazu der Russe: "Das ist nicht besonders lang. Ich bin vor einigen Jahren mit der Bahn an einen Kongress in Peking gefahren". Klar, sie hätten lieber in einem Hotel übernachtet. Aber auch diese Unterkunft sei in Ordnung, meinen sie und essen weiter in ihren dicken Pullovern und Faserpelzjacken. Sie beschweren sich nicht über das fehlende Warmwasser und die tiefen Temperaturen in der fensterlosen Zivilschutzanlage.
Viel lieber sprechen sie über Mathematik. Der russische Forscher ist Oberassistent an der Universität von Moskau. Ich frage ihn, ob diese Universität die beste von Russland sei. Da werden seine blauen Augen ganz klein. "Nein, die beste der Welt! Zumindest für Mathematik." Klar gebe es noch andere gute wie Oxford, Caltech oder MIT: "Die glauben, die besten zu sein, aber mit uns müssen sie immer noch rechnen." Und gleich will er zum Beweis antreten: Mit wenigen Strichen zeichnet er einen Sonnenaufgang aufs Papier und meint: "Bei unserer Aufnahmeprüfung müssen die Kandidaten eine Funktion finden, die dieses Bild erzeugt." Um der Aufgabe auszuweichen, lenke ich das Thema auf die Arbeitssituation an der Uni. Zum Glück gelingt das Ablenkungsmanöver.
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Ein Professor verdient 150 Dollar im Monat Der Oberassistent ereifert sich: "Unsere Löhne sind so tief, dass wir ohne Nebenerwerb nicht überleben können. Forschen ist für uns eigentlich ein Hobby." Er beispielsweise verdient seinen Lebensunterhalt in erster Linie mit Übersetzungen ins Englische. Aber er möchte nicht mit den russischen Neureichen tauschen: "Geld ist nicht alles und Mathematik ist meine Liebe - ich möchte keinen anderen Beruf." Aber ein Problem sieht er für die Jugend. Zwar hätten sie immer noch genug Studierende, aber die würden nachher gleich in die Computerindustrie abwandern. "Auch mein Sohn studiert Mathematik - leider" sagt er melancholisch und lacht.
Zum Schluss bieten sie mir noch ukrainische Schokolade an und wollen natürlich ein Vergleichsurteil - die Schweizer Schokolade sei ja angeblich die beste der Welt, meinen sie. Aber ich kann ihnen ganz ehrlich bestätigen, dass die ukrainische ebenbürtig ist. Da geht ein zufriedenes Lächeln durch die Reihen. Einer meint: "Nur ist sie eine Zehnerpotenz billiger als die Schweizer." Das muss ein Mathematiker sein.
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Literaturhinweise:
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