ETH Life - wissen was laeuft

Die tägliche Web-Zeitung der ETH Zürich - in English

ETH Life - wissen was laeuft ETH Life - wissen was laeuft
ETH Life - wissen was laeuft
Home

ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Forum
Print-Version Drucken
Zurück zum Ausgangstext
Publiziert: 18.11.2003 06:00

Eisige Gefahr
Eisige Gefahr

Gefährliche Gletscher oder gefährliche Konzepte?(1)

Von Wilfried Haeberli

Zu einem verantwortungsbewussten, partizipativen Risikomanagement gehört, dass man sich um einen Konsens der Fachleute bemüht und die Betroffenen resp. die Entscheidungsträger über den Stand des Wissens informiert. Die Idee, dass man Gletscher-Gefahren aus historischen Ereignissen für heute oder die Zukunft direkt ableiten oder gar ausschliessen könne, geht von der Annahme aus – oder suggeriert zumindest für Aussenstehende - , dass

(a) die Vorgänge im Wesentlichen repetitiv sind („was gewesen ist wird wieder vorkommen, was nicht gewesen ist kann nicht antizipiert werden“), (b) mögliche Gefahrenherde durch die dokumentierte Stichprobe (10 bis 20% aller Gletscher?) ausreichend definiert sind („nicht nur Sündenböcke unter den Gletschern sondern auch das gesamte mögliche Sündenregister sind erkannt“) und (c) Gletschergefahren durch die isolierte Betrachtung von Gletschern allein sinnvoll zu beurteilen sind („Interaktionen mit Fels, Schnee, Permafrost, Moränen, Wasser etc. sind unwesentlich“).

Alle drei Annahmen sind problematisch. Seit den 1970-er Jahren haben die Alpengletscher mindestens einen Viertel und im Extremsommer 2003 allein nochmals rund 10% ihres Volumens verloren. Ihre heutige Charakteristik (Geometrie, thermischer Zustand, dynamisches Verhalten) ist ohne historische Präzedenz. Gefahrenherde konnten verschwinden, sich am gleichen Gletscher verlagern oder an historisch nicht „auffällig gewordenen“ Gletschern neu bilden. Die Katatstrophen von Mattmark (1965), Münster (1987) oder Täsch (2001) sind erst durch den Gletscherschwund der vergangenen Jahrzehnte möglich geworden. Murgangereignisse wie diejenigen von Münster und Täsch können nur unter Einbezug der Moränensituation und (im Fall von Täsch) der Gletscher/Permafrost –Interaktion sinnvoll verstanden werden. Das Eislawinen-Ereignis mit der grössten bekannten Reichweite in den Alpen (Simplon 1901: 6 km) war ein kombinierter Fels/Eissturz aus dem Permafrost der Fletschhornflanke, nicht unähnlich dem katastrophalen Ereignis von Kolka-Karmadon im Kaukasus (September 2002: Reichweite 33 km).

Dass das schwere Murgangunglück von Täsch (18 Millionen Franken Schaden, Menschenleben in höchster Gefahr) ausgerechnet in die Zeit des Projektes „Glaciorisk“ fiel, ist genau so ein Zufall wie die Tatsache, dass die Eislawine am Allalingletscher 1965 (88 Todesopfer) ausgerechnet während der Mattmark-Bauphase niederging. Für einen Fall wie Täsch sind jedoch seit Jahren nicht nur die nötigen Fachkenntnisse für die Früherkennung sondern auch technische Sanierungsmöglichkeiten vorhanden, mit denen man beispielsweise die Ergebnisse aus dem Nationalen Forschungsprogramm 31 (Schutzkonzept Grubenseen, das sich im Sommer 2003 in einer kritischen Situation bewährte) umsetzen kann.

Den zuständigen Behörden des Bundes und der Kantone ist zu empfehlen, das „Inventar gefährlicher Gletscher“ aus dem Projekt „Glaciorisk“ sehr kritisch zu reflektieren. Rasante Veränderungen haben die alpinen Ökosysteme erfasst und werden sie in naher Zukunft mit grosser Wahrscheinlichkeit weit jenseits historischer Zustände dominieren. In Anbetracht von solchen Herausforderungen bieten ein integratives Prozessverständnis kombiniert mit den modernen Methoden der Erdbeobachtung und der Geoinformatik heute wesentliche Grundlagen für eine realistische und zukunftsorientierte Gefahrenerkennung im Hochgebirge. Der Nationalfonds und internationale Wissenschaftsorganisationen für Schnee und Eis unterstützen solche Projekte.

Im übrigen ist es erfreulich, wenn unser Unterrichtsskript „Gletscher im Umweltkontext“ für Studierende der Geowissenschaften an ETH und Universität intensiv benützt und streckenweise wörtlich abgeschrieben wird (Kapitel „Gletschergefahren“ von Funk und Wegmann). Zu den Fairnessregeln in der Wissenschaft gehört allerdings, dass man die benützte Quelle angibt. Solche Fairnessregeln sollten auch für ein privatwirtschaftliches Unternehmen gelten, das Leistungen der Hochschulen verwendet.



Fussnoten:
(1) Vgl. "ETH Life"-Bericht " Eisige Gefahr": www.ethlife.ethz.ch/articles/Glaciorisk.html



Sie können zu diesem Artikel ein Feedback schreiben oder die bisherigen lesen.




!!! Dieses Dokument stammt aus dem ETH Web-Archiv und wird nicht mehr gepflegt !!!
!!! This document is stored in the ETH Web archive and is no longer maintained !!!