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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 09.05.2001 06:00

Marginalisierte Sozial- und Geisteswissenschaften?
Kein Grund für Endzeitstimmung!

Von Thomas Bernauer

Anlässlich des Festivals Science et Cité geht wieder einmal ein Schönheitswettbewerb der Wissenschaften über die Bühne. Spieglein, Spieglein an der Wand, welche Wissenschaft ist die wissenschaftlichste, nützlichste, in der breiten Öffentlichkeit beliebteste... und somit die Königin im ganzen Land?

Wenn ich die Zeitungsberichte zum Festival lese, verfalle ich als Politikwissenschaftler fast in eine Depression. Viele AutorInnen behaupten, manche beklagen auch, dass Wissenschaft zunehmend mit Naturwissenschaft und Technik gleichgesetzt werde, dass sich Resultate sozial- und geisteswissenschaftlicher Forschung in einer breiten Öffentlichkeit nur ungenügend darstellen liessen, dass ihnen oft die Praxisrelevanz und ökonomische Verwertbarkeit abgehe, dass die Sozial- und Geisteswissenschaften im Nullsummenspiel um staatliche Finanzierung aufgrund schlechter Legitimierung marginalisiert würden usw.

Zum Glück - für die Sozial- und Geisteswissenschaften und auch die gesamte Gesellschaft - sind solche Behauptungen bzw. Klagen grösstenteils fehl am Platz. Wissenschaft mit Naturwissenschaft und Technik gleichzusetzen ist dermassen unsinnig, dass sich eine längere Diskussion erübrigt. Welches Kriterium man auch immer beizieht (z.B. methodische Stringenz oder Innovationsgehalt) - man findet sowohl in Natur-/Ingenieur- als auch Sozial-/Geisteswissenschaften Beispiele für "gute" und "schlechte" wissenschaftliche Leistungen.

Überbordende Selbstkritik

Auch die teilweise überbordende Selbstkritik der Sozial- und Geisteswissenschaften, die langsam in eine selbsterfüllende Prophezeiung überzugehen droht, geht mir langsam auf die Nerven. Natürlich steht nicht alles zum Besten. Die Lehr- und Forschungsleistungen mancher ProfessorInnen lassen sehr zu wünschen übrig, die Kommunikation mit der Öffentlichkeit ist mangelhaft, und einiges mehr. Ich wäre allerdings masslos überrascht, wenn es z.B. in der Mathematik, der Chemie oder der Architektur keine solchen Probleme gäbe. Gleiches gilt für die Nachfrageseite. Die Studierendenzahlen in manchen sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereichen nehmen stark zu, in anderen nehmen sie ab. Bestimmte sozial- und geisteswissenschaftliche Forschungsergebnisse stossen in den Medien auf grosse Aufmerksamkeit, andere wiederum nicht. Für bestimmte Forschungsleistungen besteht ein privater Markt, für andere nicht. Ist dies bei den Natur- und Ingenieurwissenschaften etwa anders?


Zur Person

Thomas Bernauer, geboren 1963 in London, Ontario (Kanada), ist seit April 1999 ausserordentlicher Professor für Internationale Beziehungen am Zentrum für Internationale Studien (CIS) der ETH und Uni Zürich. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören Fragen der internationalen Wirtschafts- und Umweltpolitik sowie der Rüstungskontrolle.




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Thomas Bernauer
Politologe Thomas Bernauer.

Selbst an der ETH Zürich, für Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen potentiell eine "hardship duty station" (erdrückendes Übergewicht der Natur- und Ingenieurwissenschaften), ist kein Niedergang dieser Wissenschaftszweige beobachtbar. Zwar steckt das D-GESS aufgrund selbst verursachter Probleme sowie mangelndem Führungswillen der Schulleitung auch nach der jüngsten Reform immer noch in einer Krise. Andererseits ist die Nachfrage nach Lehr- und Forschungsleistungen der Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen an der ETH in jüngerer Zeit deutlich gestiegen. Ein Beispiel unter vielen: Bei den Vorbereitungsarbeiten zur Schaffung eines "Grünen Bereiches" an der ETH (Agrar-, Forst-, Umweltnaturwissenschaften) wurden die TeilnehmerInnen einer grösseren Tagung gefragt, welches ihre zentralen Anliegen seien. Man staune: An der Spitze der Prioritätenliste war der verstärkte Einbezug der Sozial- und Geisteswissenschaften.

D-GESS und Schulleitung in der Pflicht

Fazit: Die bisweilen heraufbeschworene Endzeitstimmung bei den Sozial-und Geisteswissenschaften ist völlig deplatziert, sowohl gesamtschweizerisch wie auch an der ETH Zürich. In Bezug auf ihre wissenschaftlichen Leistungen braucht die Mehrheit der Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen in der Schweiz (und auch der ETH) den internationalen Vergleich keineswegs zu scheuen. Auch die gesellschaftliche Nachfrage nach Lehre und Forschung in diesen Disziplinen ist grösstenteils steigend. Das D-GESS und die Schulleitung täten gut daran, vom vorherrschenden Katzenjammer deutlich Abstand zu nehmen und mit mehr Mut und Selbstbewusstsein die Sozial- und Geisteswissenschaften an der ETH zu stärken und damit die bereits bestehende Nachfrage zielgerichteter und wirksamer zu decken.

Folgende Massnahmen sollten dabei im Zentrum stehen: (1) Konzentration der Professuren-Profile im D-GESS auf Wirtschaftswissenschaften, Recht, Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Philosophie; (2) Überführung der meisten sozial- und geisteswissenschaftlichen Professuren in anderen Departementen der ETH ("Brückenkopfprofessuren") in das D-GESS; (3) Schaffung von einheitlichen Zeitfenstern für Lehrveranstaltungen des D-GESS in allen Studiengängen der ETHZ - ohne Ausnahmen! (4) Möglichkeit zum Promovieren an der ETH in den genannten Fächern.




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