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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 29.08.2001 06:00

Artefakte und Begriffe II: Erfahrung

Von David Gugerli

Alles bleibt gut, nur Microsoft wird besser. Von release über hotprefix zu security patch und service pack zum nächsten release. Wir haben uns über lange Jahre einfach daran gewöhnt und können die neuartigen Systemabstürze bei jeder Innovationsrunde recht gut antizipieren. Die Erfahrung zeigt, dass wir gut daran tun, die permanenten (Frustations-)Erfahrungen zu ignorieren, weil wir sonst das Risiko eingehen müssten, echte Alternativen zu testen und zu erlernen. Im paradoxen Teufelskreis von selbstauferlegter Erfahrungsignoranz zugunsten des Erhalts meiner aus Erfahrung gewonnenen Kompetenzen bewege ich mich nun schon seit 15 Jahren.

Historia Magistra Vitae – die Alten glaubten noch aus der Geschichte lernen zu können. Daran können heute selbst Historiker nicht mehr so richtig glauben. Schlimmer noch, unter dem harten Regime von Microsoftprodukten höre ich wohl besser auf, historisch zu denken. Black out. Fatal error. Nicht einmal die Spurensicherung im eigenen memory dump verstehe ich zu lesen, ignoriere die unzähligen heiligen Schwüre der Vergangenheit, verbanne jene Szenen aus dem Gedächtnis, in denen ich - im Morgengrauen vor unzähligen Kaffeetassen, Diskettensätzen und einem blauen Bildschirm sitzend - tiefe Einsichten in die Daseinsbedingungen eines sogenannten endusers machen musste.

Never change a running system - die Regel wäre ja insbesondere dann zu befolgen, wenn das system dann doch endlich einigermassen läuft (wenn auch keineswegs rennt). Aber kaum höre ich auch nur von der Ankündigung einer bevorstehenden Neuauflage von Windows, so ist die Verführung bereits passiert. Schon spüre ich das Zucken im Finger, das irgendwann zu jener fatalen Minimalbewegung an der Maus führen wird, welche die Differenz zwischen Entscheidung und Ausführung in ein ebenso unscheinbares wie folgenschweres ‚Click’ zusammenschrumpfen lässt. Jetzt fährt der mouse pointer über den download button, um die preview version eines Softwarepakets im Pränatalzustand "ein wenig zu erkunden". Windows 2.0, Windows 286, Windows 386, Windows 3.0, Windows 3.1, Windows 3.11, Windows 95, Windows 98, Windows 98SE, Windows NT 4.0 (das mit dem blauen Bildschirm), Windows ME, Windows 2000. Weiss der Teufel warum und wozu. Dabei ist doch eines gewiss: Kaum ist die neueste Version installiert, müsste man eigentlich die übernächste schon haben.

Doch jetzt wird alles besser. Windows XP steht vor der Tür. Noch nie wurde soviel Geld ausgegeben, um in Werbekampagnen die Myriaden von Microsoft-Subjekten (vor 1789 hätte man von Untertanen gesprochen) auf eine alles revolutionierende eXPerience vorzubereiten. Zartbesaitete mögen sich über den Werbespot am Schweizer Fernsehen aufgeregt haben, in welchem ein unerfahrener Liebhaber trotz smart tag an den Tücken eines "password protected bra" scheiterte.


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prof david gugerli
David Gugerli

Newsweek hat natürlich sofort auf "Microsoft’s Saucy Swiss Side" hingewiesen, microsoft.ch hat den Spo(t)t inzwischen von seiner Webseite verbannt. Dabei war er doch in seinem unfreiwilligen Sarkasmus fast nicht zu übertreffen und verdiente einen Komikerpreis. Die hier zur Schau gestellte Entmündigung des endusers kennt ja auch bei den meisten Produkten, die aus Redmond stammen, keine Grenzen. Wer sich auf das Vorspiel einlässt, wird sogleich zum erfahrungslosen Ignoranten gemacht und daran gehindert zur Sache zu kommen. Dennoch werden wir, soviel ist sicher, schon bald unsere unliebsamen Erfahrungen mit eXPerience machen.


Zur Person

Das Label des "Paradiesvogels" trägt er mit Stolz: David Gugerli wurde kürzlich zum ordentlichen Professor für Technikgeschichte an der ETH ernannt - eine Premiere für die Schweiz. Er studierte Allgemeine Geschichte, Literaturgeschichte und Literaturkritik an der Universität Zürich. Nach seiner Promotion 1987 forschte und lehrte er an verschiedenen Universitäten in Europa und Amerika, unter anderem an der Stanford University. 1995 habilitierte sich David Gugerli an der Universität Zürich. Arbeiten zur Geschichte der Visualisierung im wissenschaftlichen Kontext, zum Verhältnis von Kartographie und Nationenbildung im 19. Jahrhundert, zum Diskurs über die Elektrifzierung der Schweiz oder über den Wandel in der Schweizer Kommunikationstechnologie seit 1960 stecken sein breites Forschungsinteresse ab.






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