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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 15.05.2002 06:00

Von 'disclaimer' zu Vertrauen

Von Helga Nowotny

Die witzige Kolumne mit ernstem Hintergrund meines Mittwochs-Kolumnen Kollegen Paul Schmid-Hempel hat auch mich angeregt, einen weiteren Disclaimer beizusteuern. Vor einiger Zeit stiess ich beim Kauf eines Kleidungsstücks auf folgende eingenähte Aufschrift: All defects in this garment are intended and by design. Zynismus der Werbung, postmoderner Unsinn oder beides? Ich stimme Schmid-Hempel zu, dass sich hinter solchen verbalen Pirouetten eine tiefer liegende Malaise verbirgt. Eine Ära der neuen Ehrlichkeit und eine Absage an vorauseilenden Gehorsam, wie er fordert, sind in der Tat wünschenswert. Verbleiben wir noch einen Augenblick im Bereich des 'common sense': überall gibt es Grenzen und ich wünsche mir gelegentlich auch jene Weisheit zu haben, die darin liegt, nicht nur die vermeintlichen, sondern die wahren Grenzen unseres Tuns und unserer Möglichkeiten zu erkennen - wohl wissend, dass diese nicht zuletzt unter den zunehmenden Möglichkeiten, die uns Wissenschaft und Technik zur Verfügung stellen, laufend einem historischen Wandel unterliegen.

Doch was treibt unsere Gesellschaft dazu die schlichten 'common sense' Regeln zu missachten? Was verhindert die Ehrlichkeit, Dinge einfach beim Namen zu nennen? Was erzeugt das manchmal unerträgliche Ausmass von 'hype', also von masslos überzogenen Versprechungen, die unter keinen Umständen einzulösen sind und dennoch ohne Wimperzucken gegeben werden? Als im 18. Jahrhundert die 'Leidenschaften' von den 'Interessen' abgelöst wurden und die grossen Ökonomen der Zeit argumentierten, dass der Eigennutz vieler zum Gesamtwohl aller führen könnte, wurde eine neue Grundlage für rationales ökonomisches Handeln gelegt, das sowohl Kooperation wie Konkurrenz umfasste. Heute, angesichts rapid fortschreitender Globalisierung, werden die Grenzen des bisherigen Erfolgsmodells sichtbar. Bisher unangefochtene Grundsätze, die zugleich ökonomischen Wohlstand, politische Unangefochtenheit und moralische Überlegenheit zu garantieren schienen, müssen neu überdacht werden..


Zur Person

"Tolle Arbeitsbedingungen und eine internationale Atmosphäre, die in Europa ihresgleichen sucht", umschreibt Helga Nowotny die Trümpfe der ETH. Seit 1995 ist sie, die in Wien Jura und an der Columbia University Soziologie studierte und später an der Wiener Uni das Institut für Wissenschaftstheorie leitete, Professorin für Wissenschaftsforschung und -philosophie an der ETH. Und seit 1998 führt sie als Nachfolgerin von Adolf Muschg das Collegium Helveticum in der Sternwarte, den schweizweit einmaligen Think Tank, der die Forschung sich selbst zum Thema werden lässt. "Die Forschung muss raus aus den Labors, wenn sie sich von der Gesellschaft nicht entfremden will", lautet eine ihrer Kardinalbotschaften. Ihre Mitbegründung der Stiftung "Science et Cité" ist sichtbares Zeichen dafür. Eine weitere ihrer Botschaften: "Wissenschaft muss sich politisch einmischen". Auch dafür liefert Helga Nowotny gleich selbst das Beispiel: Im September 2001 wurde sie in den Rat der Weisen des EU-Forschungskommissars Philippe Busquin berufen.




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helga nowotny
Helga Nowotny, Professorin für Wissenschaftsforschung an der ETH und Leiterin des Collegium Helveticum. gross

Doch blicken wir nochmals zurück auf die Wissenschaft, in der die richtige Ausgewogenheit zwischen Zusammenarbeit, auf die alle angewiesen sind, und Wettbewerb, der notwendig ist um die Besten zu fördern, eine überragende Rolle spielt. Hier stösst man bald auf eine zentrale Kategorie ohne die Wissenschaft nicht denkbar wäre: das gegenseitige Vertrauen. Ohne Vertrauen in das was andere tun und in Publikationen öffentlich darüber berichten, wäre es schlicht nicht möglich Wissenschaft zu betreiben. Sicher, auch Vertrauen muss sich der Ueberprüfung stellen und Ergebnisse werden umso sorgfältiger beäugt, je wichtiger die Behauptungen sind, die damit verbunden sind. In der Gesellschaft ist es nicht anders. Ehrlichkeit weicht dann der Doppeldeutigkeit von Warnungen und den Vorbehalten der mehrfach verschlüsselten, juridisch abgesicherten Vertragstexte, wenn die Basis des Vertrauens nicht mehr gegeben ist. Das Recht ist aufgerufen, vorausblickend genau diese Fälle zu regeln. Eine Gesellschaft, der das Vertrauen abhanden kommt, braucht umso mehr Juristen.

Besonders oft wird der Verlust des Vertrauens in die Autorität der Wissenschaften und ihrer Experten beklagt. Doch Vertrauen ist nicht ein Zustand, der einfach gegeben ist. Vertrauen muss ständig neu erworben und bewiesen werden. Vertrauen ist auch kein einseitiger Akt, sondern setzt gegenseitigen Respekt voraus. Es schliesst den anderen ein, dessen Vertrauen man geniesst. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Vertrauen beinhaltet dem anderen etwas zuzutrauen, die Grenzen seines Verständnisses zu kennen, aber auch zu respektieren, dass sich etwa die Öffentlichkeit nicht für alles ebenso brennend zu interessieren hat, wie die WissenschaftlerInnen das tun. Im Extremfall ist dem anderen zuzutrauen etwas aushalten zu können - eben "die Wahrheit". Dazu gehört, dass die Wissenschaft nie unter vollständiger Sicherheit operieren kann und dass sie ehrlich zugeben muss, dass es Bereiche gibt, in denen wir zumindest gegenwärtig die Antwort nicht wissen.

Im Fall der Unsicherheit und unter dem Druck sich dennoch entscheiden zu müssen, wendet man sich an jene Experten, denen man Glauben schenkt und denen man vertraut. Ohne Vertrauen würde das Leben jeder Gesellschaft zusammenbrechen. Vertrauen ist zweiseitig und dem anderen etwas zuzutrauen schliesst seine Bevormundung aus. Im Englischen sind 'claims' Ansprüche und 'disclaimers' verneinen die Ansprüche der anderen, die man gerade erst geweckt hat. Wenn wir mehr gegenseitiges Vertrauen haben und dieses sich einlösen lässt, dann werden wir weniger Rückzieher brauchen.




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