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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen


Lernen

Published: 16.05.2007 06:00
Modified: 22.05.2007 14:58
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Michael Hampe

An der ETH wird viel gelernt. Wozu eigentlich?

Der Philosoph Ernst Tugendhat meint, jeder Mensch, der etwas tut, das nicht einfach dem Überleben diene, strebe danach, etwas gut zu tun. Er zitiert in diesem Zusammenhang die englische Autorin Iris Murdoch, die im fortgeschrittenen Alter Russisch lernte und sich dabei mit der „komplexen Realität“ dieser Sprache konfrontieren wollte, einer Wirklichkeit, der sie sich aufmerksam zuwenden musste, um diese Sprache wirklich zu lernen. Dabei habe sie sich „ihrer Phantasie und ihrer subjektiven Faulheiten“ zu enthalten. „So eine Tätigkeit“, schreibt Tugendhat, verlange „Tugenden, die den moralischen Tugenden verwandt“ seien, wie Mut, Demut, Wahrhaftigkeit vor sich selbst und Respekt vor der Sache. „Dasselbe,“ meint er, kann man „von irgendetwas sagen, was jemand lernt. Das menschliche Lernen ist anders als das Lernen anderer Tiere. Ein Mensch lernt, etwas gut zu machen und befindet sich, wie Murdoch sagt, „auf einer Skala von gut“ –a scale of excellence-, auf der er mehr oder weniger weit sein kann.“ (1)

Durch Anerkennung einer solchen durch eine Sache vorgegebene Skala der Exzellenz entsteht ein über das Überleben hinausgehender Handlungssinn; ein Sinn für die Realität als etwas, an dem man sich nicht nur zur Erhaltung seiner selbst abzuarbeiten hat, sondern in der man selbst gewählte Ziele mit unterschiedlicher Vollkommenheit verfolgen kann. Das gilt für das Erlernen einer Sprache ebenso wie für die Aneignung der Fähigkeit, Häuser oder Turbinen zu konstruieren. Lernende hören auf, sich lediglich mit sich selbst und ihrer Erhaltung zu beschäftigen. Sie wenden sich etwas Fremdem zu, das sich von ihren Wünschen und Phantasien nicht beherrschen lässt, sondern das sie unter Anstrengungen kennen lernen müssen, um in ihm etwas zustande zu bringen. Sobald Lernende merken, dass es möglich ist, in der widerständigen Wirklichkeit etwas gut und immer besser zu tun, dass beispielsweise die widerständige Natur immer genauer erkannt, sogar vertraut und Ort des eigenen Handelns werden kann, freuen sie sich. Deshalb ist Lernen an sich sinnvoll. Die Behauptung, man lerne, um zu überleben, ist für Menschen viel zu einfach und deshalb, wie alle Ungenauigkeiten, falsch. Die auf Individuen und Institutionen angewandte sozialdarwinistisch-ökonomistische Redeweise, wer nicht lerne, könne sich nicht behaupten und gehe unter, ist eine im wörtlichen Sinne unsinnige, weil Sinn zerstörende und verrohende Banalisierung dessen, was fortgeschrittene Lernende erfahren und was sie zum weiteren Lernen bringt: Dies dürfte weniger die Angst vor dem Untergang oder der Arbeitslosigkeit sein als die Erfahrung der Möglichkeiten erfolgreichen Handelns in einer von den eigenen Phantasien unabhängigen Realität, in der man etwas immer besser und besser machen kann. Die Angst vor dem Untergang ist wie das Träumen eine Selbstfixierung, die aus Not oder – im Falle des Träumens- als eine Form der Bewusstlosigkeit entsteht, Phänomenen, von denen Menschen sich durch Kultur befreien können, wenn sie nicht in ihren Phantasien hängen bleiben, sondern „aufwachen“, um sich lernend, aber ohne Lebensbedrohung, mit einer fremden Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Die vermeintlich „realistische“, tatsächlich aber de-kultivierende Denkweise, die Lernen nur als Bedingung für das Bestehen von Konkurrenzen ansieht, versteht nicht, dass die „scale of excellence“, auf die sich Lernende implizit immer beziehen, nicht durch bedrohliche Konkurrenten vorgegeben wird, sondern durch die Realität selbst, in der gelernt wird. Die Wirklichkeit, die lernend erkannt werden soll, setzt selbst die Massstäbe der Exzellenz. Es geht beim Lernen nie einfach nur darum, andere Lernende zu überflügeln.


Zum Autor

Wissenschaften ihre Exaltiertheiten vorzuführen, erachtet Michael Hampe als eine seiner Aufgaben. Der ETH-Professor für Philosophie sieht sich dabei auch in der Tradition von Diogenes von Sinope, der Platons Definition des Menschen als zweibeiniges, nacktes Tier mit einem gerupften Hahn ad absurdum führte, oder in der, die von Paul Feyerabend abstammt, der auf die Geschichtlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis hinwies und Erkenntnistheorie als eine "bisher unerforschte Form des Irrsinns" karikierte.

Die Einbettung von Erkenntnissen in ihre historischen Umstände ist Hampe auch bei seiner Lehrtätigkeit ein Anliegen. Er ist auch der Auffassung, dass der Versuch, wissenschaftlichen Erfolg planen zu wollen, eine Kreativitätskapitulation darstellt. Dass man sich mit solchen "närrischen" Ansichten auch immer wieder Feinde schafft, nimmt Hampe als Folge der "intellektuellen Redlichkeit in Kauf“.


Michael Hampe, ETH-Professor für Philosophie am Zentrum "Geschichte des Wissens" und "ETH Life"-Kolumnist.

Erfolge in Konkurrenzen, ohne Respekt vor der Sache, führen lediglich zur Sucht nach weiteren Siegen und damit zu verschärftem Selbstbezug, aber nicht zum Sinn einer Tätigkeit, die sich immer mehr verbessert, je mehr in ihr eine fremde Wirklichkeit angeeignet wird. Entsprechend empfinden lediglich in Konkurrenzen existierende Menschen, wie alle, denen es hauptsächlich um sich selbst und erst sekundär um eine Sache oder andere Menschen geht, ihr Leben leicht als „hohl“ und sinnlos. Ebenso sinnlos sind Bildungsinstitutionen, die nur auf den Konkurrenzerfolg gegen andere Institutionen ausgerichtet sind, nicht aber auf die Bedingungen für Sinn erzeugendes Lernen. Der Sieg in der Konkurrenz als Ziel des Lernens führt zwar zu momentaner Euphorie, aber nicht zu sinnvoller Tätigkeit, weil auf den Sieg sofort das Streben nach dem nächsten Sieg, also einer weiteren der Tätigkeit externen Anerkennung folgen muss, damit das Tätigsein in Gang bleibt. Sinnvolles Lernen findet dagegen in einer nach oben offenen Exzellenzskala statt. Man kann Russisch immer noch besser lernen, Turbinen immer noch effizienter, Häuser immer noch technisch und ästhetisch besser bauen. An die Stelle der äusseren Anerkennung tritt hier der tätigkeitsimmanente Erfolg in der Sachkundigkeit, der dann freilich auch nach aussen sichtbar wird. Prozesse eines Lernens, das mehr ist als Überleben- und Siegenlernen, sind potentiell unendlich, durch keinen Erfolg abschliessbar. Deshalb wird ein Ingenieur nach Verlassen der ETH idealer Weise ja in seinem Beruf weiter lernen und wegen dieser Fortsetzbarkeit des Lernens einen sinnvollen Beruf haben.

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Der Bezug des Lernens auf Tugenden wie Mut, Demut, Wahrhaftigkeit und Respekt, den Ernst Tugendhat vorschlägt, darf nicht zu dem Irrtum verführen, lernen mache „moralisch“. Dies ist früher von der Bildung behauptet worden: Humanisten glaubten lange, Bildung mache Menschen zu besseren Menschen. Vor allem in Deutschland ist man von dieser Illusion geheilt worden. Dort wurde besonders deutlich, dass so genannte höhere Bildung (mit der vor allem eine Ausbildung in alten Sprachen und schönen Künsten gemeint war) vor moralischen und politischen Verfehlungen nicht schützt oder, wie es Odo Marquard ausgedrückt hat, dass Bildung kein Amulett ist.

Es war das Treiben gebildeter Leiter und Ärzte in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, von Menschen, die Hölderlin zitierten, Bachs Goldberg-Variationen auf dem Klavier spielten und mordeten, das die Desillusionierung erzwang. Paradigmatisch für dieses Personal war Reinhard Heydrich, Sohn von Bruno Heydrich, einem begabten Musiker, der das erste Hallische Konservatorium für Musik und Theater gegründet hatte. Sein Sohn Reinhard soll ein sorgender Vater gewesen sein, der freie Abende der Hausmusik, vor allem Haydn und Mozart widmete. Himmler, Reichsführer SS, mit dem Heydrich als Chef der Geheimen Staatspolizei eng zusammenarbeitete, berichtete, Heydrich sei ein sehr guter Violinspieler gewesen: „Er hat mir zu Ehren einmal eine Serenade vorgetragen, das war wirklich Format…“ (2) Gebildet in der Dichtkunst, virtuos auf der Violine, Könner im Fechten und Reiten - dass er all das gelernt hatte, hinderte den Chef der Gestapo nicht daran, eigenhändig Regimegegner mit der Pistole zu erschiessen und innerhalb kurzer Zeit zum gefürchtesten Intriganten und Drahtzieher in der der NS-Elite aufzusteigen. Zu sagen, wenn er so etwas machen konnte, war Heydrich nicht wirklich gebildet, ist unsinnig, denn es stützt nicht die Vermutung, dass Bildung moralisch mache, sondern immunisiert sie.

Die von Tugendhat benannten Tugenden des Lernens wie Mut, Wahrhaftigkeit zu sich selbst und Respekt vor der Sache können auch innerhalb eines Verbrecherregimes wie dem des „Dritten Reichs“ zu Erfolg führen. Umgekehrt bedarf es keiner höheren Bildung, um einzusehen, dass politische Gegner nicht umgebracht werden dürfen. Lernen schafft (wie Bildung) zwar Sinn und ist für die Lernenden auch Selbstzweck, doch schützt es weder sich selbst, noch die Menschen, die sich ihm widmen, vor Zweckentfremdungen für abwegige politische oder ökonomische Ziele, die ja auch heute noch verfolgt werden.

Footnotes:
(1 Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München, 2007, S. 30
(2 Zitiert in Joachim C. Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, München 1963, S. 151.


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