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Rubrik: Science Life Ein Blick in die Geschichte: die Schweizer Kernkraft Der Traum vom eigenen Reaktor |
Published: 17.05.2004 06:00 Modified: 14.05.2004 13:53 |
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Die Geschichte der Kernkraft in der Schweiz ist eine politische. Zwei Dissertationen haben das Thema aufgegriffen und die Zeit seit 1945 unter die Lupe genommen. Nun liegen beide Arbeiten als Buch vor, veröffentlicht im Chronos Verlag. Gleichzeitig hat die ETH-Bibliothek ein Archiv zur Geschichte der Schweizer Kernenergie aufgebaut. Eine Veranstaltung von „Wissenschaft kontrovers“ zum gleichen Thema, sie war für heute Montag geplant, muss wegen Erkrankung eines Referenten abgesagt werden. Von Michael Breu (mailto:breu@cc.ethz.ch) Nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 wurde die Kernkraft in der Schweiz erstmals zu einem breit rezipierten Thema. „An das Grauen in den zerstörten Städten schloss unmittelbar die Hoffnung auf zivile Anwendungsmöglichkeiten der neuen Energieform an“, schreibt der ETH-Historiker Tobias Wildi in seiner Dissertation, die im Chronos Verlag unter dem Titel „Der Traum vom eigenen Reaktor“ als Buch vorliegt (1) . Bereits in den ersten Nachkriegswochen seien in den Schweizer Medien die Möglichkeiten einer Nutzung der Kernenergie diskutiert worden. Mit der Genfer Atomkonferenz der Vereinten Nationen Mitte der 1950er-Jahre sei schliesslich „Schwung in die Zukunftspläne“ gekommen, heisst es in einem Artikel in Archiv für Sozialgeschichte (2003, 43: 632-635). Kernkraftwerk für die ETHIn der Schweiz habe sich die Erkenntnis verfestigt, „dass die Entwicklung eines kommerziell verwertbaren Reaktortyps die Ressourcen eines einzelnen Unternehmens übersteigen würde“, berichtet Wildi und findet: „Nur die Verteilung der Entwicklungskosten und der finanziellen Risiken auf mehrere Firmen schien Aussicht auf ein erfolgreiches Engagement in der Atomtechnologie zu bieten.“ Die grossen Unternehmen schlossen sich deshalb – und das ist einmalig in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte – zu einer Forschungskooperation zusammen. Gleich drei Projekte für Kernkraftanlagen gingen in Planung: Unterhalb der ETH, mitten in der Stadt Zürich, wollten Ingenieure einen Reaktor ausschliesslich für Heizzwecke bauen. Dagegen protestierte die Westschweiz, die ab 1957 in Lucens einen Leichtwasser-Reaktor plante. Gleichzeitig wollten die Schweizer Elektrizitätsunternehmen einen fertigen Reaktor in den USA bestellen. „Im Frühjahr 1959 trat die schweizerische Atomtechnologie-Entwicklung in eine neue Phase“, schreibt Wildi. „Konsortium, Enusa und Suisatom hatten dem Bund drei Projekte vorgelegt und dafür eine Unterstützung von insgesamt 90 Millionen Franken verlangt. Mit den Subventionsgesuchen wollten sie den Bundesrat nicht nur beauftragen, die Pläne im Sinne einer Selektionsinstanz zu evaluieren, sondern auch verpflichten, die Atomtechnik in der Schweiz finanziell zu unterstützen.“
Schliesslich wurde am 1. April 1960 der Bau des Reaktors in Lucens beschlossen. Wildi: „Gebaut wurde ein Versuchsreaktor, der später zum Zugangsstollen für das Kraftwerk ausgebaut wurde und eine kleine Kaverne, in welcher vorbereitende Untersuchungen stattfanden“. Nur kurze Zeit später – 1965 – bestellten die Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK) bei Westinghouse/BBC die Kernkraftanlage Beznau I, die 1969 den Betrieb aufnahm und bis heute Strom produziert. Die Explosion von LucensDer Bau in Lucens hingegen verzögerte sich. Einerseits wirkten Bauprobleme lähmend, andererseits beschloss die Firma Sulzer 1967, aus dem Projekt auszusteigen. Dennoch wurde der Reaktor fertig gestellt und am 21. Januar 1969 in Betrieb genommen. Nach nur wenigen Stunden Betriebszeit kam es schliesslich im Brennelement 59 zu einer Explosion und damit zum Aus für den „Traum vom eigenen Reaktor“. Dennoch: Die Arbeitsgemeinschaft Lucens bilanzierte im Schlussbericht (Mai 1969): „Es ist selbstverständlich, dass Lucens für alle Beteiligten einen grösseren Wert verkörpert hätte, wenn die Reaktorentwicklung nicht abgebrochen worden wäre. Es wäre aber sicher falsch, Lucens deswegen jeden Wert abzusprechen … Gesamthaft betrachtet haben die gewonnenen Erfahrungen – eingeschlossen diejenigen negativer Art – für die beteiligten Firmen die Voraussetzung geschaffen, um von einer günstigen Ausgangslage aus auf dem Gebiete der Atomtechnik weiterarbeiten zu können“.
Mit einem weiteren Kapitel der Schweizer Atomgeschichte befasst sich die Dissertation von Patrick Kupper, die ebenfalls im Chronos Verlag als Buch erschienen ist (2) . Der ETH-Historiker hat „die Geschichte des gescheiterten Projektes Kernkraftwerk Kaiseraugst“ aufgearbeitet. Geplant wurde die Kernkraftanlage von 1965 bis 1989. Schon die Planungsdauer macht deutlich, dass „Kaiseraugst“ die üblichen Dimensionen eines technischen Projektes bei weitem sprengte. „’Kaiseraugst’ war nicht nur ein Plan, ein Projekt – es war ein permanenter Unruheherd, der fast zur Staatskrise führte. Es war aber auch ein geistiges Testgelände für die Auseinandersetzung zwischen moderner Technik und menschlicher Gesellschaft, zwischen politischer Willensbildung und Rechtsstaat“, zitiert Kupper den Energieexperte Michael Kohn. Damit angesprochen sind die massiven Proteste gegen den Bau der Kernkraftanlage, die in einer Besetzung des Geländes vom 1. April bis 11. Juni 1975 gipfelte. Der Widerstand entzündete sich aber nicht etwa am Unfallrisiko, sondern am Gewässer- (Erwärmung des Rheinwassers) und Landschaftsschutz (Kühlturm). Im März 1988 wurde schliesslich das definitive „Aus für Kaiseraugst“ beschlossen (unter Federführung des heutigen Bundesrates Christoph Blocher). Gespaltene GesellschaftPatrick Kupper relativiert in seinem Buch „Atomenergie und gespaltene Gesellschaft“, dass der Bau des Kernkraftwerkes in erster Linie am politischen Widerstand scheiterte. Entscheidender sei die „kollektive Fehleinschätzung unternehmerischer Risiken“ und die „uneinheitliche Projektlandschaft“ gewesen. „Die Fehleinschätzung beförderte nicht nur falsche Erwartungen, sondern führte auch dazu, dass Mitte der 1960er-Jahre viel zu viele Projekte fast gleichzeitig in einem scharfen Konkurrenzkampf lanciert wurden“, schreibt der Historiker. Archiv über die Nutzung der KernkraftMit den beiden Dissertationen haben Tobias Wildi und Patrick Kupper einerseits das Thema der zivilen Nutzung der Kernenergie in der Schweiz aufgearbeitet, andererseits ein Archiv initiiert, das seit Mitte Februar 2004 der ETH-Bibliothek angegliedert ist. „Für das genauere Verständnis von erfolgreichen und gescheiterten Innovationsprozessen muss man wissen, was in den Köpfen der Beteiligten vorgegangen ist, welche Probleme sie sahen, welche Prioritäten sie setzten, auf welche Zukunft sie sich einstellten und was ihnen auch ganz einfach und selbstverständlich erschienen ist“, sagte David Gugerli, ETH-Professor für Technikgeschichte, bei der Eröffnung des „Archivs zur Geschichte der zivilen Nutzung der Kernenergie in der Schweiz“ (ARK) (3) .
Footnotes:
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