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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 22.03.2002 06:00

Bergier-Kommssion liefert Schlussbericht ab
Viel versäumt, einiges geleistet

Mit ihrem Schlussbericht setzt die Unabhängige Expertenkommission – Schweiz Zweiter Weltkrieg (UEK) unter Leitung von ETH-Professor Jean-François Bergier den offiziellen Schlusspunkt unter ihr Mandat. Das am Freitag vorgestellte 600-Seiten-Werk "Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg" dürfte zum historiographischen Standard über die Geschichte der Schweiz von 1933 bis 1945 werden.

Von Norbert Staub

Die Kommission bekräftigt in der Synthese ihre in den bisherigen Zwischenberichten und Einzelstudien vorgebrachte Kritik an den flüchtlings- und wirtschaftspolitischen Entscheiden der Schweizer Behörden. "Man ist häufig zu weit gegangen", zog Jean-François Bergier am Freitag in Bern Bilanz. "Dies sowohl in Bern wie am Sitz gewisser - jedoch nicht aller - Unternehmen. Das zeigt, dass gewisse Handlungsspielräume vorhanden waren."

"Zum Holocaust beigetragen"

Ohne Not und im Wissen um das Schicksal der Abgewisesenen hätten die Behörden sich insbesondere gegenüber den Flüchtlingen betont hart gezeigt. Im Wissen um die tödlichen Konsequenzen hätten die Behörden 1942 die Grenzschliessung vefügt. In diesem Zusammenhang Fiel Bergiers härtester, für die moralische Bilanz der Schweiz wohl schmerzvollster Satz: die Politik unserer Behörden habe "dazu beigetragen, das grausamste Ziel der Nazis zu verwirklichen, den Holocaust." Auch das mutige Engagement weiter Bevölkerungskreise für die Opfer von Krieg und Verfolgung habe prinzipiell nichts an dieser Politik ändern können.

Bemängelt wird auch der Modus der Rückerstattung von Vermögenswerten von Opfern des NS-Regimes nach 1945. "Dies ist nicht auf Böswilligkeit oder die Absicht zurückzuführen, sich auf Kosten der Opfer zu bereichern, sondern vor allem auf Nachlässigkeit", so Bergier. Das Schweizer Bankgeheimnis habe immer wieder als Rechtfertigung für die Brüskierung berechtigter Ansprüche gedient. Gleichzeitig stellt die UEK das Verhalten der Schweiz aber in den damaligen internationalen Kontext: nicht nur die Schweiz, die gesamte Staatengemeinschaft habe bei der Rettung der Juden vor den Nazis versagt. Wirtschaftlich mit Deutschland zu kooperieren, sei für den Kleinstaat Schweiz damals bis zu einem gewissen Grad überlebensnotwendig gewesen.


Flut von Einzelstudien

25 ausführliche Studien zur Flüchtlingspolitik, zum Raubgold, zur Handels- und Wirtschaftspolitik liegen jetzt vor. Am Freitag sind die letzten sieben, darunter die Berichte zur Aussenwirtschaft, zu den Schweizer Versicherungen im NS-Machtbereich, zur Rüstungsindustrie und zum Finanzplatz Schweiz während der Nazi-Ära dazugekommen.

Sind nun alle Schleier zur Schweiz während der Nazizeit gelüftet? Im Gegenteil: "Es gibt noch viel zu tun", gab Jean-François Bergier gegenüber ETH Life bereits im Dezember zu bedenken. Allerdings sei es für einen einzelnen Staat unmöglich, den Fokus zu erweitern. Gefragt sei jetzt sie supranationale Forschung.




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j f bergier
"Die Forschung muss weitergehen und von jetzt an den nationalen Horizont überschreiten": Jean-François Bergier (70), emeritierter ETH-Professor für Wirtschaftsgeschichte und Präsident der UEK.

Und nirgends in Schweizer Behörden oder Unternehmen seien bei den Nachforschungen Anzeichen dafür aufgetaucht, dass die Zusammenarbeit mit den Deutschen aus ideologischen Motiven oder auch nur geringster Sympathie für den Nationalsozialismus stattgefunden habe. Stets habe die Devise Nützlichkeit und Überleben im Vordergrund gestanden.

Krieg verlängert?

Zusammen mit der Humanität habe bei diesen Abwägungen auch die unentwegt hochgehaltene Fahne der Neutralität Schaden erlitten. So setzte man sich beim sogenannten Milliardenkredit an das "Dritte Reich", bei der Lieferung von Kriegsmaterial oder der ungenügenden Kontrolle des Zugsverkehrs Italien-Deutschland ohne Zögern über die Neutralitätsdoktrin hinweg.

Die Schweiz habe dazu beigetragen, dass NS-Deutschland 1933/35 praktisch aus dem Stand heraus in die Massenproduktion von Rüstungsgütern einsteigen konnte, so der Bericht. Beim Aussenhandel kommt die UEK anders als der 1997 veröffentlichte "Eizenstat-Bericht" der US-Regierung zum Schluss, dass "wissenschaftlich nicht überprüfbar" sei, ob die Schweiz mit ihrer Aussenwirtschaftspolitik den Zweiten Weltkrieg verlängert hat. Hat sie aber vom Krieg profitiert? - Auch auf diese Frage gebe es kein klares Ja oder Nein: jedenfalls habe nur schon das Verschontbleiben von Zerstörungen der Schweizer Wirtschaft für die Stunde Null einen grossen Wettbewerbsvorteil verschafft, hält die UEK fest

Bundesrat: Schuldbewusstsein und Erleichterung

In seiner ersten Reaktion äusserte der Bundesrat seine Genugtuung über die geleistete Arbeit. Es liege jetzt an den Bürgerinnen und Bürgern, den Lehrkräften und wissenschaftlichen Kreisen, sich eine Meinung zu bilden und die Ergebnisse zu diskutieren. Nicht immer habe die Schweiz den humanitären Anforderungen zu genügen vermocht. Hingegen hätten die Experten weisen aber auch drei schwere Vorwürfe gegen die Schweiz entkräftet: "Unsere Wirtschaftsbeziehungen mit dem mächtigen Nachbarn haben den Krieg nicht verlängert; kein einziger Zug mit Deportierten hat unser Land durchquert; der Vorwurf, die schweizerischen Banken hätten ihre Prosperität auf der Hinterlassenschaft von Opfern des Nazi-Regimes aufgebaut, entbehrt der Grundlage", schreibt die Landesregierung in ihrer Stellungnahme.

Mit den in den letzten Jahren ergriffenen Massnahmen bei den Nachrichtenlosen Vermögen, der humanitären Entschädigung und dem finanziellen Engagement für die Menschenrechte hofft der Bund, auf staatlichen Versäumnissen beruhendes Unrecht wieder gut zu machen.


Literaturhinweise:
ETH-Life-Bericht über den Abschluss der Arbeiten der Bergier-Kommission vom Januar 2002: www.ethlife.ethz.ch/tages/show/0,1046
Website der UEK, auf welcher auch der vollständige Schlussbericht zu finden ist: http://www.uek.ch



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