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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 14.11.2001 06:00

Umfrage unter ETH-ProfessorInnen
Geisteswissenschaften wozu?

Hartnäckig halten sich die Vorurteile gegenüber den Geisteswissenschaften. Behauptet wird, sie brächten zu wenig gesellschaftlichen Nutzen, würden sich im Elfenbeinturm mit weltfremden Themen beschäftigen, tauschten sich international und interdisziplinär zu wenig aus und böten dem Nachwuchs keine Karrieremöglichkeiten. ETH life wollte wissen, wie ETH-Professoren unterschiedlicher Bereiche zu diesen Vorurteilen stehen.

Von Brigitte Blöchlinger

Auslöser der kleinen Umfrage unter ETH-Professorinnen und Professoren war ein Podiumsgespräch des "Tages-Anzeigers" vom letzten Mittwoch in der Aula der Universität Zürich zum Thema "Geisteswissenschaften wozu?". Der "Tages-Anzeiger" berichtete tags darauf ausführlich darüber(2). Die Diskussion über Sinn und Nutzen der Geistes- und Sozialwissenschaften in der Schweiz bricht nicht ab. Morgen Donnerstag, 15. November 2001, widmet die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften ihre Herbsttagung (3) in Bern dem Thema "Geisteswissenschaften heute und morgen". "Es scheint in der Tat notwendig, konkrete Vorschläge für die gute Entwicklung und eine verbesserte Ausstrahlung der Geisteswissenschaften zu präsentieren", schreibt die SAGW auf der entsprechenden Website.

Geisteswissenschaften an der ETH

Verschärft zeigt sich die Legitimationsproblematik der Sozial- und Geisteswissenschaften an technischen Hochschulen wie der ETH. Die ETH geniesst weltweit einen ausgezeichneten Ruf - allerdings für ihre Leistungen im technischen und naturwissenschaftlichen Bereich. Die Sozial- und Geisteswissenschaften werden an der ETH zwar grundsätzlich als wichtig erachtet, doch gibt es genügend Hardliner, die sie hinter vorgehaltener Hand nicht ernst nehmen. Die Studierenden müssen zwar zwei Stunden pro Woche mit geistes- oder sozialwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen belegen - aber verglichen mit dem Hauptstudium ist das marginal. Die ETH leistet sich zwar mit dem Collegium Helveticum ein institutionalisiertes Experimentierfeld für die Zusammenarbeit zwischen Geistes-, Sozial-, Natur- und Technikwissenschaftlern sowie Kunstschaffenden, doch begeistert das vorwiegend die, die ohnehin von transdisziplinärem und interkulturellem Vorgehen fasziniert sind.

"Marktwirksame" Produkte

Doch gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften und Ansätze von Verständigung, wie eine kleine Umfrage unter ETH-Professor/innen zeigt. So beanstandet der Informatikprofessor Walter Gander, dass heute allzu schnell nur nach dem Nutzen gefragt werde. "Forschungsgelder werden gerne für kurzfristige Erfolge der 'nützlichen', im voraus geplanten angewandten Forschung gesprochen und müssen mit 'zweckloser' Grundlagenforschung, Bildung im weitesten Sinne und allgemeinem Erkenntniszuwachs geteilt werden." Und Gander beobachtet, dass unter dieser Entwicklung vor allem die Geisteswissenschaften leiden, "die im allgemeinen wenig 'marktwirksame' Produkte erzeugen". Doch könnten "die Probleme unserer Welt offensichtlich nicht nur durch einen technischen Ansatz angegangen werden." Über die grossen Probleme nachzudenken und zur Lösung beizutragen, seien "alle Menschen gefordert, auch die Geistes- und Sozialwissenschaftler".

Analyse des Komplexen

Auch der Politikwissenschaftler Thomas Bernauer hinterfragt die derzeit häufig formulierte Nützlichkeitsforderung kritisch. Das Wichtigste, wozu ein Studium der Geistes- und Sozialwissenschaften anleite, sei die Befähigung "zur Analyse komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge" - eine Fähigkeit, die sich nicht direkt in Franken und Rappen aufrechnen lasse, aber wohl von niemandem als unnütz abgetan werden könne. Ausserdem zeige ein Blick in die Geschichte, dass sich jede hoch entwickelte Kultur den "Luxus" leistete, "über ihre Geschichte, Kultur, Sprachen und soziale Veränderungen systematisch nachzudenken". Nicht zuletzt deshalb, weil die Beschäftigung mit der Vergangenheit und der Gegenwart unabdingbare Voraussetzung sei, die Zukunft ohne Perpetuierung der immergleichen Fehler ethisch verantwortungsvoll zu meistern. Letzten Endes aber gehe es bei den Nützlichkeitsdiskussionen immer auch um die Verteilung von Geld und Ressourcen. Und diesbezüglich sei zu hoffen, dass der Trend "in Richtung einer vorwiegend technologisch orientierten wissenschaftspolitischen Diktatur einer transparenteren Diskussion um die Kriterien für eine als gesamtgesellschaftlich sinnvoll empfundene Verteilung der Ressourcen weichen wird". (4)


Das Departement GESS

Seit rund einem Jahr sorgt nicht mehr die Abteilung XII der ETH für die Horizonterweiterung der ETH-Studierenden, sondern das Departement GESS, wobei GESS für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften steht. Die Studierenden müssen zwei Wochenstunden pro Semester in GESS-Fächern belegen. Das Lehrangebot erstreckt sich von Philosophie, Wissenschaftsforschung und -Ethik, Sprachen und Literaturgeschichte, über Wirtschaftsforschung, Rechtswissenschaft, Verhaltenswissenschaft, Konfliktforschung, Soziologie, Psychologie bis zur Didaktik.




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rodins denker
Animiert auch an der ETH zum Nachdenken: die Situation der Geisteswissenschaften.

Verteilung der Ressourcen

Dass die Verteilung von Forschungsgeldern immer auch gesellschaftspolitische Konsequenzen zeitigt, betont auch David Gugerli, Professor für Technikgeschichte. "Wo sich verschiedene Disziplinen im Verteilkampf um Ressourcen befinden", sei die interdisziplinäre Verständigung selbst bei Themen schwierig, die per se eine interdisziplinäre Erforschung nahelegen würden, wie beispielsweise die Gesundheit, der Klimawandel, Sicherheit oder Kommunikation. Gugerli sieht diesbezüglich Handlungsbedarf: "Die Hochschulen und die forschungspolitischen Instanzen müssen unbedingt dafür sorgen, dass der Grad an Vertrautheit mit disziplinenfremden Erklärungsmustern steigt."

Häufig fehle es an "institutionellem Anreiz, das Tun und Lassen der andern auch nur zur Kenntnis zu nehmen" - und an Erfahrung damit: "Man spricht zwar von der Notwendigkeit des interdisziplinären Dialogs, aber man hat ihn nicht gelernt, weil man lange genug sehr erfolgreich in seiner eigenen Welt operiert hat." Auch die Kompetenz- und letztlich Machtfrage stellt sich bei gesellschaftlich relevanten, interdisziplinären Forschungsarbeiten: "Wer muss wem zudienen, wer missioniert wen, wer kann vom andern mehr profitieren?" Der Blick übers eigene Gärtchen funktioniere am besten, wenn alle beteiligten Partien je einen klaren Mehrwert daraus ziehen könnten. Und wenn die unterschiedlichen Experten sich gegenseitig wertschätzten. (5)

Ganzheitliche Ansätze gefragt

"Wir stehen an der Schwelle einer noch viel weiter gehenden Digitalisierung und Informatisierung unseres Lebens und unserer Umwelt", mahnt Albert Kündig, Professor für Elektrotechnik und unter anderem Mitglied der Leitungsgruppe für Technikfolgeabschätzung des Schweizerischen Wissenschaftsrats. Doch weder die Sozial- und Geisteswissenschaften noch die Natur- und Ingenieurwissenschaften würden sich genügend mit den Auswirkungen der Informationstechnologie auf die Gesellschaft beschäftigen. Zwar gebe es vielversprechende Initiativen, beispielsweise der SAGW und des Bundes. Doch diese Auseinandersetzung mit den Technikfolgen bedinge die Entwicklung einer "gemeinsamen Sprache" und ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein. "Ich bin überzeugt", so Kündig, "dass nur neue Denkansätze, neue Modelle und vor allem nur neue methodische Ansätze uns weiterbringen werden. Gefragt sind ganzheitliche wissenschaftliche Ansätze." (6)

Anspruchsvolle Transdisziplinarität

Mindestens so aufschlussreich wie das, was die Wissenschaft tue, sei das, was sie nicht tue, gibt Johannes Fehr, Privatdozent und Programmbeauftragter für Kunst und Literatur am Collegium Helveticum, zu bedenken. Als Beispiel nennt er den Boom der Generativen Transformationsgrammatik (GTG) von Noam Chomsky in den siebziger Jahre. Während in der Linguistik damals ausführlich zur GTG gelehrt wurde, war der technische Impuls, der die GTG hervorgebracht hatte - die Entwicklung des Computers - kein Thema. Alle Disziplinen unterstünden jedoch einem "permanente(n) Wandlungsprozess". Die Gegenstände, mit denen sich die einzelnen Disziplinen beschäftigten, veränderten sich zum Teil stark, ebenso die Methoden sowie die Auswirkungen der Disziplinen auf die jeweilige Gesellschaft. Gerade für die inter- und transdisziplinäre Arbeit sei es nun aufschlussreich zu sehen, wie die momentane Stossrichtung einer Disziplin zustande gekommen sei. Diese kulturelle Situierung der Disziplinen müsse verstärkt mit reflektiert werden und mache "den transdisziplinären Austausch zu einer ebenso anspruchs- wie reizvollen Aufgabe". (7)

Unterschiedliche Karrierechancen

Eines scheint sich als Common sense an der ETH weitgehend durchgesetzt zu haben: interdisziplinäres Forschen und Lehren ist in der heutigen komplexen Welt angebracht. Und zumindest in gewissen Disziplinen sind die Fachgrenzen so durchlässig geworden, dass sich selbst so unterschiedliche Fächer wie Theologie und Forstliche Ressourcenökonomie gegenseitig befruchten können - zumindest bei Ingrid Kissling-Näf ist das der Fall. Das Theologiestudium habe ihr für ihre derzeitige Tätigkeit als Assistenzprofessorin an der ETH insofern etwas genützt, als es "ein wirklich interdiszipliäres Studium" war. Und obwohl die junge Volkswirtschaftlerin bestens in die Science Community ihres Fachs eingeführt ist, hätte sie sich zumindest theoretisch auch eine Karriere bei den Geisteswissenschaften vorstellen können: "Ich glaube persönlich, dass meine Chancen in den Geisteswissenschaften mindestens so gut, wenn nicht sogar besser gewesen wären."


Fussnoten:
(1) Brigitte Blöchlinger ist freie Journalistin BR.
(2) Den Tages-Anzeiger-Bericht finden Sie unter: http://tagesanzeiger.ch/ta/taZeitungRubrikArtikel?ArtId=139162
(3) Herbsttagung der Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften: www.sagw.ch
(4) Originaltext von Thomas Bernauer: www.ethlife.ethz.ch/forum/show/forum_ThomasBernaue.html
(5) Originaltext von David Gugerli: www.ethlife.ethz.ch/forum/show/forum_DavidGugerli.html
(6) Originaltext von Albert Kündig: www.ethlife.ethz.ch/forum/show/forum_AlbertKndig.html
(7) Originaltext von Johannes Fehr: www.ethlife.ethz.ch/forum/show/forum_JohannesFehr.html



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